Der Heiler
können es sich leisten, dafür zu zahlen, dass jemand die Gegend sauber hält.«
»Eine stetig wachsende Branche«, sagte Jaatinen. »Viele unserer Leute sind rübergewechselt. Sie wollen ordentlich verdienen, um in den Norden zu ziehen. Alle Âkönnen da allerdings auch nicht unterkommen. Und das Leben ist in dem Job nicht leichter als hier bei uns.«
Ich musste das Gespräch unbedingt wieder in die alten Bahnen lenken. Meine Aufgabe war, nach Johanna zu suchen, und nicht, die katastrophalen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt zu erörtern.
»Angenommen, du solltest im Fall des Heilers und Tarkiainens ermitteln«, sagte ich. »Wo würdest du beginnen?«
Jaatinen schien meine Frage erwartet zu haben. Er überlegte keine Sekunde und sagte sofort: »Ich würde Tarkiainen suchen. Tot oder nicht.«
»Und wie?«, fragte ich.
»Mit den Informationen, die du jetzt hast, mit Instinkt und gutem Glück. All das brauchst du. Tarkiainen ist erwiesenermaÃen am Leben. Irgendwo gibt es Leute, die das wissen. Es würde mich wundern, wenn er sich weit von seinem früheren Umfeld entfernt hätte. Ich habe das Gefühl, dass er die Gegend gut kennt, in der er unterwegs ist. Dasselbe trifft auf die Menschen zu, die er um sich hat. Ich würde nach seinen alten Bekannten suchen: Arbeitskollegen, Nachbarn, Golfpartner, Gesinnungsgenossen. Einer von denen hat vielleicht immer noch Kontakt zu ihm. Eventuell hat er auch eine Stammkneipe.« Jaatinen verstummte und schien absichtlich den Platz für die Anschlussfrage offen zu lassen.
»Du glaubst also nicht, dass Tarkiainen tot ist.«
Jaatinen dachte nicht über seine Antwort nach: »Nein«, sagte er mit seiner unerschütterlichen und rauen Stimme.
Wir redeten noch zehn Minuten weiter, und dabei bekam ich mehr und mehr das Gefühl, dass ich trotzdem auf Distanz gehalten wurde. Ich hatte viel erfahren, aber natürlich nicht alles. Ich hakte nicht nach. Und ich brachte es auch nicht fertig, Jaatinen direkt zu fragen, wie er Johannas Chancen einschätzte. Aber er sprach mit mir über die drei Jahre zurückliegende EntführungsÂserie, bei deren Aufklärung Johanna geholfen hatte, so dass die sechs- und achtjährigen Mädchen lebend â wenn auch mit dauerhaften Schäden â zu ihren Eltern zurückgebracht werden konnten. Ich begriff, dass er mit diesem Geplauder Hoffnung bei mir wecken wollte, und ich tat alles, um jeden Krümel aufzusaugen.
Nachdem wir eine Weile schweigend dagesessen hatten, stand Jaatinen auf und zog dabei seine dunkle Anzughose hoch. Ich tat dasselbe mit meinen Jeans und verspürte wieder einen scharfen Stich im Rücken. Wir gaben uns die Hand, und ich dankte ihm für seine Zeit.
Er sagte: »Wir machen weiter.«
Ich antwortete: »Ja, das machen wir.« Erst an der Tür wurde mir seine Wortwahl bewusst. Ich drehte mich zu ihm um und fragte: »Warum willst du weitermachen?«
Für einen Moment sah er nicht wie Dr. Phil aus, sondern wie ein anderer, vielleicht wie er selbst.
»Ja, warum«, es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
Auf seinem Gesicht zeigte sich etwas, vielleicht ein Anflug leiser Freude oder groÃen Verdrusses.
»Hier besteht noch die Möglichkeit, mehr Gutes als Böses zu tun. Und ich bin Polizist. Ich glaube an das, was ich tue. Bis etwas anderes bewiesen wird.«
9 »Du bist der merkwürdigste Mensch, den ich kenne«, hatte Johanna einmal gesagt und mir dabei die Arme um den Hals geschlungen. »Du kannst stundenlang auf deinem Platz sitzen, ins Leere starren und dabei vollkommen konzentriert sein.«
»Das stimmt aber so nicht ganz«, hatte ich erwidert und war aus meinen Gedanken erwacht. »Ich starre nicht ins Leere. Ich arbeite.«
»Mach mal zwischendurch eine Pause«, hatte sie gesagt und gelacht, »damit du dich nicht überanstrengst.«
Dann hatte sie sich rittlings auf meinen Schoà gesetzt, so dass ihre FüÃe nicht den Boden berührten, hatte ihre Lippen auf meine gedrückt, mich lange geküsst und auch danach noch gelacht.
Die bedeutsamsten Momente im Leben sind, während sie geschehen, so flüchtig und selbstverständlich, dass man sie gar nicht richtig beachtet. Erst hinterher fällt einem ein, den Mund aufzumachen, dem anderen zu danken oder zu sagen, dass man ihn liebt. Jetzt zum Beispiel hätte ich alles dafür gegeben,
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