Der Henker von Lemgo
tiefe Löcher in den Pelz des Gegners. Regungslos sah Maria
zu, wie sie sich an den Hinterteilen beschnüffelten, aufeinandersprangen und
sich mit kurzen, ruckartigen Bewegungen paarten. Das taten sie immer, wenn sie
etwas gefressen hatten. Ihre nackte rosige Brut lag überall auf dem glitschigen
Boden, vergraben unter hellem, weichem Flaum. »Ganz wie die Menschen«, murmelte
sie nachdenklich und warf ihren Schuh dazwischen, sodass die Nager quietschend
auseinanderfuhren.
Sie erwachte aus
ihrer Erstarrung, als sich der Schlüssel im Schloss hinter ihr drehte und das
ohrenbetäubende Quietschen das Gequieke der Ratten übertönte. Erschrocken
sprang Maria auf und starrte gebannt auf die niedrige Eisentür. Hinter der
vergitterten Klappe erschien ein Gesicht. Seit Hermanns Besuch mussten mehrere
Stunden vergangen sein, denn die Sonne war bereits untergegangen. Was konnte
man um diese Zeit noch von ihr wollen? Mit einem unguten Gefühl zog sie sich
tiefer in den Kerker zurück.
In der
Folterkammer saß ein einsamer Mann am Richtertisch. Längst waren die Fackeln
erloschen, nur das Talglicht auf dem Tisch glomm noch. Es würde nicht mehr
lange dauern, bis es sein kurzes Leben aushauchte wie all die anderen zuvor.
Längst waren die Schreie der Blattgerste verklungen, und nur die düsteren
Mauern der Folterkammer, stumme Zeugen der Tortur, hätten von den grausamen Qualen
zu berichten vermocht, die den Menschen innerhalb dieser Mauern widerfuhren.
Alles, was diese an Flüchen und Verwünschungen schon gehört hatten, an Stöhnen
und Todesröcheln, hätte längst den Staub aus ihren Fugen rieseln lassen müssen.
Doch anders als die Häuser in der Stadt, die Augen und Ohren hatten, waren
diese Mauern als Bollwerk gegen den Teufel gebaut worden. Meterdick schluckten
sie jeden Schall.
Die Schultern des
Mannes zuckten. Sein Kopf war auf den Tisch gesunken, das Gesicht hatte er in
den Armen vergraben. Er weinte. David war am Ende seiner Kräfte, doch niemand
hörte sein Schluchzen, sein haltloses Wimmern und qualvolles Aufstöhnen, als er
sein Leben und sein grausames Handwerk verfluchte.
Der Henker war zum
Opfer geworden, zum Opfer seiner eigenen Machtlosigkeit. Der Mensch in ihm wand
sich unter Schmerzen, brüllte wie ein Affe und wimmerte wie ein Kind, das um
Liebe und Vergebung bettelte. Was er nie für möglich gehalten hätte, war
eingetroffen: Die zwei Seiten seiner Seele waren aufeinandergetroffen und
fochten nun wie zwei geharnischte Ritter um Leben und Tod.
»Maria! Oh …
Maria!«, brüllte er, und die Mauern warfen seinen Schmerz auf ihn zurück. Mit
einem ohnmächtigen Schrei auf den Lippen sprang er auf, raufte sich wild die
langen Haare, schlug mit dem Kopf gegen die Felswand und trat mit dem Fuß gegen
den Tisch. Aber er bekam keine Antwort. »Ich kann es nicht tun! Herrgott, ich
kann sie nicht foltern!«, brüllte er und drohte dem schimmligen Felsgestein mit
der kräftigen Faust.
In diesem Moment
hätte er am liebsten Gott und den Teufel erwürgt. Er gebärdete sich wie ein
Wolf, der ein Leben lang eingesperrt gewesen war und nun wild gegen alles
anraste, was sich ihm entgegenstellte. Blindwütig stürzte sich David auf die
Folterwerkzeuge und warf sie einzeln gegen die Wände, die von seinem Zorn
erbebten, aber stumm blieben. Er wollte mit Maria leben. Ihren herrlichen
Körper berühren, ihr goldenes Haar streicheln, ihre Brüste liebkosen und ihre
Füße küssen. Er verzehrte sich nach ihr.
Entschlossen packte
er das Richtschwert, das bisher von seinen Verwüstungen verschont geblieben
war. Der Respekt vor seinem Handwerk verbot ihm, ohne Begründung Hand an die
Waffe zu legen. Im Gegensatz zu den von grausamen Menschenhirnen erfundenen
Folterwerkzeugen war das todbringende Schwert für ihn heilig, vom Urgroßvater
an den Großvater und vom Großvater an den Vater weitergegeben worden. Einst
hatte er es blutjung aus den Händen des sterbenden Vaters empfangen. Jetzt
packte er es und schwang es drohend über dem Kopf. Nur einer konnte dieses hart
geschmiedete Schwert anheben: er, David Claussen, der Henker von Lemgo. Laut
brüllte er, dass die Mauern erzitterten: »Hermann Cothmann! Ich, der Henker von
Lemgo, fordere dich heraus! Mann gegen Mann! Ich werde dir mit diesem Schwert
und einem sauberen Schnitt den Schädel vom Rumpf trennen! Im Gegensatz zu den
vielen Unschuldigen in diesen Mauern, die durch deinen Urteilsspruch in der
Verdammnis schmoren, wirst du nicht leiden, das verspreche ich dir! Denn
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