Der Henker von Lemgo
Füße über die Winde
zog und ihr Körper so platt wurde, dass er Ähnlichkeit mit einer abgewetzten
Pferdedecke hatte, vernahm Maria schon nicht mehr. Sie war ohnmächtig neben dem
Richtertisch zusammengebrochen.
Das Brot lag
ebenso unberührt auf dem Boden wie der Krug mit Wasser, der vor ihr stand.
Breitbeinig saß sie davor und sang leise vor sich hin. Es war ein Wiegenlied aus
ihrer Kinderzeit, das ihr die Großmutter jeden Abend vor dem Schlafengehen
vorgesungen hatte. Kaum hörbar und stockend formte sie Wort für Wort und ließ
sie dann langsam zu einer Melodie verschmelzen. Beten wollte sie nicht, denn
Gott hatte ihr nicht beigestanden.
Seit einer Woche saß
sie nun schon in dem Kerker, der ihr kaum Platz ließ, aufrecht zu gehen,
geschweige denn zu stehen. Bis auf ein kleines Loch in der Felswand, durch das
sich ab und zu ein winziger Sonnenstrahl stahl, herrschte trübe Dämmrigkeit im
Kerker. Maria fror am ganzen Körper. Der glitschige Boden unter ihr war feucht,
und von den kantigen Felswänden starrten ihr die verzweifelten Botschaften
anderer unschuldig Verurteilter entgegen, die mit ungelenken Händen in die
Wände geritzt worden waren.
Ihre Kleider waren
steif vor Schmutz, und das rotgoldene Haar hing ihr nass, verklebt und strähnig
ins Gesicht. Sie sehnte sich nach einem Bad. Seit Tagen schon hatte sie ihre
Notdurft auf dem Boden des Kerkers verrichtet. Unter normalen Umständen hätte
sie sich vor sich selbst geekelt, doch hier, in dem modrigen, stinkenden Loch,
war ihr alles egal.
Erst seit diesem
Morgen – sie vermochte die Zeit nur anhand der wandernden Sonne hinter dem Loch
abzuschätzen – konnte sie wieder hoffen. Zum ersten Mal hatte der Hohe Rat sich
gnädig gezeigt und Hermann zu ihr vorgelassen. Sie lächelte bei dem Gedanken, wie
schön er ausgesehen hatte. Extra für sie hatte er Puder aufgelegt. Noch nie
hatte sie ihn so männlich erlebt. In der Barbierstube, wenn er stets mit
blutbefleckter Schürze, in Hemdsärmeln und im Lederkoller arbeitete, hatte sie
sich manchmal heimlich vorgestellt, wie ihr Mann wohl als fein gekleideter
Edelmann aussehen würde. Sie waren reich, sie verkehrten in den oberen
Schichten, eigentlich konnten sie es sich leisten. Aber Hermann hatte immer nur
gearbeitet. »Für unsere Kinder«, waren seine Worte gewesen, wenn sie ihn
manchmal darum gebeten hatte, eine der zahlreichen Einladungen der Oberschicht
anzunehmen, und er stattdessen lieber seinem Beruf nachgegangen war.
Erst in der
schmerzlichsten Stunde ihres Lebens hatte ihn die Liebe bewogen, im dunkelblauen
Überrock aus feinstem Brokat und mit golddurchwirkten Ärmelaufschlägen, unter
denen die kostbare Spitze des Hemdes hervorblitzte, vor ihr zu erscheinen. Ein
anrührender Liebesbeweis. Nur zu gut wusste sie, wie sehr er das Tragen einer
Perücke verabscheute. »Der falsche Pelz ist hinderlich bei der Arbeit, und man
schwitzt darunter wie ein Schwein«, hatte er immer wieder als Entschuldigung
vorgebracht.
In der braunen,
wallenden Allonge-Haarpracht war er ihr zuerst etwas befremdlich erschienen.
Seltsam. Es war ihr vorgekommen, als hätten sie sich Jahre nicht gesehen.
Erschrocken und verwirrt hatte sie sich vor dem fremden Edelmann in das Innere
des Kerkers zurückgezogen. Erst als er die Arme ausbreitete und sie zärtlich
mit der von ihr so geliebten dunklen Stimme aufforderte, zu ihrem Ehemann zu
treten, hatte sie ihre Scheu überwunden und sich mit einem Aufschrei der
Erleichterung an seine Brust geworfen.
Endlich konnte sie
dem Druck nachgeben und weinen. Bis dahin war ihr keine einzige Träne über die
Wangen gelaufen, hatte sie Cothmann die Stirn geboten, indem sie die Nahrung
verweigerte, und halsstarrig ihre Unschuld beteuert. Kraft schöpfte sie nur aus
der Hoffnung, dass sich eines Tages der Schlüssel im Schloss drehen und sie das
Verlies hocherhobenen Hauptes wieder verlassen würde.
Doch die
Gegenüberstellung mit der Blattgerste und das Warten mutterseelenallein im
Kerker, ohne zu wissen, wie es Mann und Kindern draußen erging, hatten an ihren
Kräften gezehrt.
Taktvoll hatte
Hermann gewartet, bis der Tränenfluss versiegt war und sie sich beruhigt hatte.
Sanft strich er ihr immer wieder über das Haar und flüsterte ihr Koseworte ins
Ohr, dass er sie liebe und immer zu ihr stehen werde, egal, was auch geschehe.
Dicht an seinen Körper gepresst, nahm sie seine Wärme in sich auf, bis sie ganz
ruhig wurde und er ihren tränennassen Mund mit wilden Küssen
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