Der Henker von Lemgo
nach diesem Geschichtsverständnis schauerliche Amtsfunktion zu reduzieren.
Das einzig Richtige am Negativimage von David Clauss d. Ä. aber ist, dass er
wie kaum ein anderer Scharfrichter auch über Lemgo hinaus von Berufs wegen mit
Hexenprozessen befasst war. Mit neunundvierzig Dienstjahren war er der wohl am
längsten diensthabende Scharfrichter, doch in dieser Zeit nicht nur Henker,
sondern auch Mensch, Nachbar und Familienvater.
Allein in den
Jahren 1665 bis 1667 wurden in Lemgo neunzehn Männer und fünfundfünfzig Frauen
wegen Hexerei hingerichtet, darunter ein Oberstleutnant, ein Pfarrer, ein
Magister und zwei ehemalige Ratsherren. Gehen wir einhundert Jahre zurück, so
sind es sogar mehr als zweihundert Personen, die fünf Prozesswellen zum Opfer
fielen. Wenige, denen der Prozess gemacht wurde, blieben unter der Folter
standhaft oder erwiesen durch die Wasserprobe ihre Unschuld. Erst im Jahr 1681
gelang es einer mutigen Frau durch Unterstützung ihrer Familie und Freunde, der
Folter zu widerstehen und der Hexenverfolgung ein Ende zu setzen.
Um all das
darzustellen, ist es erforderlich, den Leser ein wenig in die chaotischen
Verhältnisse und politischen Auseinandersetzungen der alten Hansestadt Lemgo
einzuführen, die sich bis in das 17. Jahrhundert hinein als die
bedeutendste Stadt der Grafschaft Lippe präsentierte und deren Wohlstand
überwiegend auf dem Fernhandel der Kaufleute beruhte. Zugleich verdiente sie
sich aber auch den Ruf, eine der Hochburgen grausamster Hexenverfolgungen zu
sein. Ursache dafür waren kriegerische Auseinandersetzungen und verheerende
Seuchen am Anfang des Jahrhunderts, die furchtbare Folgen für Lemgo hatten und
somit eine dramatische Krise innerhalb der städtischen Gesellschaft heraufbeschworen.
Nachdem die Stadt zweimal geplündert worden war, nahm die erste große
Hexenprozesswelle ihren unheilvollen Lauf. Hinzu kam, dass nach dem
Dreißigjährigen Krieg nur noch die Hälfte der einst vom Wohlstand geprägten
Häuser intakt und die ursprüngliche Einwohnerzahl von viertausendsiebenhundert
auf ungefähr dreitausend Einwohner geschrumpft war.
Als es 1609 zu einem
Bürgeraufstand kam, der die Annahme der reformierten Konfession verhinderte,
verteidigte die Stadt im acht Jahre späteren »Rührentruper Rezeß« in ihren
Auseinandersetzungen mit dem Grafen ihr lutherisches Bekenntnis gegen das im
Lande geltende reformierte Bekenntnis und sicherte sich die Hoheitsrechte der
»Blutgerichtsbarkeit«. Ein folgenschwerer Schritt, denn regiert von einer
Stadtelite aus Juristen und alteingesessenen Lemgoer Elitebürgern, die oftmals
in engen verwandtschaftlichen Verhältnissen zueinander standen, spielte sich
nun die Führungspolitik zunehmend in einem territorialen Rahmen ab. Isolation,
Erstarrung und chaotische Zustände bis hin zu Gesetzlosigkeit waren die
verheerenden Folgen. Die einst blühende Hansestadt Lemgo geriet in eine
tiefgreifende Wirtschaftskrise. Das städtische Selbstbewusstsein, das sich auf
den kaufmännischen Erfolg und auf die bürgerliche Freiheit gestützt hatte,
wurde zutiefst erschüttert.
Die Stadtherrschaft
aus eben diesen Elitebürgern, das Ratsgremium, bildete zugleich das Gericht.
Gemäß einer alten Verfassungsurkunde aus dem 15. Jahrhundert, der
»Regimentsnottel«, die besagte, dass in Lemgo stets zwei verschiedene
Ratsbesetzungen umschichtig amtierten, regierten jeweils für ein Jahr als
sogenannter Geschworener Rat zwei Bürgermeister, ein Beisitzer, ein Siegler,
zwei Kämmerer und sechs Ratsherren, während sie für ein weiteres Jahr als
Ruhender Rat eingeschränkte Funktionen ausführten. Zusätzlich zur Wahlprozedur
am Dreikönigstag war eine Abstimmung des Rates mit den anderen beiden an der
Stadtherrschaft beteiligten Ausschüssen notwendig, den Versammlungen der
Amtmeister der Dechen und den Vertretern der Meinheit, der übrigen
Bürgerschaft, die in den Bauernschaften organisiert war. Dieses Prinzip machte
es sich zur Aufgabe, die Machtstellung der Ratsmitglieder zu begrenzen.
Gleichzeitig nahm die Stadt in Kauf, dass sich eine moderne Verwaltungsarbeit
nur bedingt ausbilden konnte. So befand sich diese über viele Jahre hinweg in
den Händen eines einzigen Mannes: des beim Rat angestellten und ohne
Unterbrechung amtierenden Stadtsekretärs, der mit seinem angesammelten
Dienstwissen zum wichtigsten Mann Lemgos aufstieg.
Durch das
insbesondere zu Beginn des Jahrhunderts veränderte Kräftespiel zwischen dem
Landesherrn, der städtischen
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