Der Henker von Lemgo
wenn sie
gleichzeitig mit der Gewissheit hätte leben müssen, dass er ihre Nachbarn und
Freunde tötete.
Leise, so leise,
dass vielleicht nur sie es hörte, murmelte sie durch halb geöffnete Lippen:
»Leb wohl, David! Ich werde dir verzeihen, doch meine Liebe zu dir wurde gleich
einer Blume unbarmherzig zertreten. Sie kann niemals wieder erblühen.«
Verlegen senkte sie
den Blick und sah an ihrem Körper hinab. Einen Moment schien es so, als wollte
sie ihm noch etwas sagen. Dabei ließ sie es geschehen, dass er ihre
Fingerspitzen mit seiner warmen Hand umschloss und sie sanft mit den Lippen
berührte. Dann entzog sie sie ihm jedoch ruckartig, drehte sich von ihm weg,
damit er ihre Tränen nicht sehen musste, und humpelte, ohne sich noch einmal
nach ihm umzuschauen, zur Kutsche. Das Geheimnis ihrer Liebesnacht nahm sie mit
sich.
Aufrecht, doch mit
hängenden Schultern, so als trüge sie eine schwere Last, stieg Maria in die
Kutsche. David stand regungslos da und blickte dem kleiner werdenden Gefährt
hinterher, bis es nur noch ein winziger schwarzer Punkt am Horizont war. Ein
großer, einsamer und alter Mann, für dessen Schmerz es keine Linderung geben
würde. Er drehte sich langsam um, stieg auf sein Pferd und jagte wie der Teufel
in die Stadt zurück.
Epilog
Vierundzwanzig
Jahre später, an einem kalten Dezembertag im Jahre 1705, saß vor einem noch
frischen Steingrab auf einem kleinen, abseits gelegenen Friedhof des Ortes Varel
im Oldenburger Land eine steinalte Frau. Die Luft war bitterkalt und frostig.
Es hatte geschneit, und die dicken Flocken hatten die wenigen Gräber mit einer
dünnen weißen Decke aus frischem Pulverschnee zugedeckt.
Die Frau wühlte mit
den Händen im Schnee. Ihre Finger steckten in zerrissenen Handschuhen, an denen
der Stoff an den Fingerkuppen fehlte. Offensichtlich spürte sie die blau
gefrorenen Fingerspitzen nicht, denn sie kratzte immer tiefer in der
steinharten Erde, bis ein Leuchten über ihr verfrorenes Gesicht glitt. Das,
wonach sie gesucht hatte, lag nun vor ihr. In den Stein aus dunklem Marmor war
in großen, ungelenken Buchstaben ein Name geritzt worden: »Maria Rampendahl,
Ehefrau des Chirurgus Hermann Hermessen, geboren in Lemgo im Jahre des Herrn 1645,
gestorben in Varel im August anno 1705. Ruhe in Frieden!«
Ihre Finger suchten
weiter, bis sie ein paar steif gefrorene verwelkte Rosen zum Vorschein
brachten. Fast zärtlich wickelte sie die Blumen in ihr Brusttuch und barg sie
unter dem schäbigen Lumpenumhang. Das Gesicht mit der spitzen Nase nahm einen
verklärten Ausdruck an, und sie blickte zum Himmel. Leise formten die dünnen
Lippen Worte, die sich wie ein frommes Gebet anhörten, dann legte sie die
wieder aufgetauten Blumen in den Schnee auf das Grab.
Ihre Stimme war dünn
und klang wie das Rascheln der verwitterten Blätter am Stiel der welken Rosen.
»Verzeih mir,
Schwester«, flüsterte sie, »dass ich nicht zu deiner Beerdigung kommen konnte.
Die Reise von Lemgo ist weit und beschwerlich und kostet viele Gulden. Trotzdem
wollte ich, bevor auch ich vor unseren Herrgott trete, sehen, wo du, meine
geliebte Schwester, in Frieden deine Ruhe gefunden hast.«
Das Weib machte eine
Pause und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von der Nase, bevor sie zu
Eistropfen gefroren. Dabei zog sie aus dem Rock ein kleines schwarzes Buch und
legte es neben die Rose. »Ich habe es für dich bei einem Trödler gegen Mutters
Schmuck eingetauscht. Gott hab sie selig! Jetzt bin ich die einzige und letzte
der Rampendahls, die der Herrgott noch zu sich rufen muss. Viel hat mir das
Leben nicht mehr gelassen. Nachdem der Prozess deiner Revision, den Hermann und
Kleinsorge erbittert gegen den Richter Cothmann führten, leider vom Hohen Rat
gewonnen wurde, intrigierte Barthold Krieger als neuer Bürgermeister gegen
meinen geliebten Ehemann Anton. Zwei Jahre später verstarb er vor Gram, ehrlos
und ausgeschlossen von der Gesellschaft. Da du, meine liebe Schwester,
heimatlichen Boden nie wieder betreten durftest, erlebtest du nicht mit, wie
der Vater und unsere Schwester Ilsabein, die nach der Schussverletzung nie
wieder richtig genas, nacheinander starben. Dem Herrn sei Dank, sie hat
wenigstens ihren Bäcker noch bekommen. Ich, deine Lieblingsschwester
Margaretha, blieb allein zurück. Eine schutzlose Witwe mit Bergen von Schulden.
Alsbald wurde mein prachtvolles Haus versteigert, doch der neue Besitzer
gestattete mir gnädigerweise, noch einige Monde darinnen zu wohnen.
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