Der Henker von Lemgo
Die einzige
Tochter Ilsabeins, Gott sei auch ihrer barmherzigen Seele gnädig, erbarmte sich
meiner und nahm mich in ihrem Hause auf. Auch sie hat später geheiratet. Einen
Knochenhauer, der mich nach ihrem Tod wie Vieh aus dem Haus trieb und mich um
meine letzten mir noch verbliebenen Gulden brachte. David, der Henker, ist ein uralter
Mann und wartet einsam wie ich auf die Erlösung. Heute führt sein Sohn das
grausame Handwerk in Lemgo fort. Vor Wut und Enttäuschung, dass die Cothmannen
es geschafft hatten, deine Revision zu zerschlagen, stürmte David mit gezücktem
Degen in das prächtige Haus des Richters, um ihn vor die Klinge zu fordern und
ihn endlich für seine Missetaten zu bestrafen. Doch der Tod war schneller
gewesen, denn er wartete schon über Cothmanns Bett, um ihn dem Fegefeuer zu
übergeben. Der Richter war nicht mehr in der Lage, sich Davids Klinge zu
stellen. Drei Tage nach dem Prozess starb er qualvoll am Fieber.«
Schwerfällig erhob
sich die alte Frau, zog sich den durchlöcherten Schal aus einst feinster Seide,
ein letztes Überbleibsel aus längst vergangenen, besseren Tagen, fröstelnd um
die Schultern und faltete die Hände. Zwei eisige Tränen liefen über ihr
knochiges Gesicht, als sie leise murmelte: »Einen einzigen Wunsch hat uns der
Herrgott erfüllt, Maria: Nach dir wurde nie wieder eine Hexe in Lemgo
gerichtet.«
Leise knirschte der
Schnee unter ihren Füßen, als sie den Blick müde zu dem kleineren Grab daneben
schweifen ließ. Es war ein winziges Kindergrab, schon lange bedeckt von den
Blättern der Ulmen, die darüber wachten. Das Einzige, was darauf hinwies, dass
ein kleiner Mensch in ihm begraben lag, war ein Kreuz, auf dem in verwitterten
Buchstaben der Name »David« stand.
Schlussbemerkung der Verfasserin zum historischen Hintergrund
Noch heute
gibt es das kleine verträumte Städtchen Lemgo im lippischen Land. Es ist längst
nicht so groß und geschichtsträchtig wie seine Nachbarstädte, und doch findet
man noch heute hier die Spuren einer längst vergangenen Zeit, die es in das
Zentrum eines ganz besonderen Interesses rücken. Zeugen einer Zeit, die uns
gebannt verharren lassen und uns mit ein bisschen Vorstellungskraft in eine
Welt entführen, die für uns heute fast unvorstellbar ist. Da sind das gut
erhaltene und liebevoll restaurierte Hexenbürgermeisterhaus, welches heute als
Museum dient, und das prachtvolle Haus am Markt, die Ratsapotheke. Ganz
besonders faszinierte mich von Anfang an das Haus des Scharfrichters David
Clauss d. Ä., sodass ich lange davor verweilte und mir dachte: Die Geschäfte
des Henkers müssen gut gelaufen sein, dass sich ein Nachrichter ein solches Haus
leisten konnte. So wurde ich neugierig.
Mein Weg führte mich
in das Archiv, wo ich erstmals in Kontakt mit Hexenprotokollen aus dem 16. und
17. Jahrhundert kam. Natürlich hatte ich zunächst meine Schwierigkeiten
mit der alten Schrift, doch schon allein das vergilbte Papier beflügelte meine
Phantasie, und das Archiv hatte zudem noch sehr aufschlussreiche Übersetzungen
zu bieten. Zu Hause stürzte ich mich auf die Aufsätze und verschlang sie
regelrecht. Besonders die Biografie des Scharfrichters las ich mir so oft
durch, bis dieser widersprüchliche und höchst interessante Mann in meinen
Gedanken zu neuem Leben erweckt wurde. Ich glaubte, über einen Henker, der
normalerweise zur untersten Schicht der Gesellschaft gehörte, noch nie etwas
derartig Interessantes und Wissenswertes gelesen zu haben. Schon bald befand
sich der Roman fertig in meinem Kopf; es sollte eine Liebesgeschichte vor dem
geschichtlichen Hintergrund dieser grausamen Zeit werden. Deshalb habe ich –
die Historiker mögen mir verzeihen – die tragische Liebesgeschichte zwischen
David und Maria erfunden. In der Wirklichkeit dieser chaotischen Zeit wäre eine
Verbindung zwischen einer Bürgerstochter und einem Henker schier undenkbar
gewesen.
Seine Popularität
verdankt der Scharfrichter David Clauss d. Ä. – auch Meister David genannt –
den Hexenverfolgungen, obwohl sie durchaus zweifelhafter Art waren. In der
Literatur wird der frühneuzeitliche Scharfrichter oft als ehrloser Außenseiter
dargestellt, als ein Mensch, mit dem kein anständiger Bürger etwas zu tun haben
wollte, verachtet, gemieden, isoliert. Solange es darauf ankam, die Epoche der
Hexenverfolgung als eine Zeit des Niedergangs in möglichst düsterem Licht
erscheinen zu lassen, genügte es, die individuelle Person des David Clauss auf
ihre
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