Der Henker von Paris
wir freie Hand haben für den äusseren Feind an unseren Grenzen.«
»Patrioten«, sagte Gorsas mit einem etwas zynischen Gesichtsausdruck, »soeben habe ich vernommen, dass auch Lyon in britischer Hand ist. Jetzt sind bereits zwei Drittel der dreiundachtzig Departements gegen die Freiheit. Na so was.«
»Sie werden bald alle für uns sein«, sagte Robespierre, »ob aus Überzeugung oder aus Angst, mir ist es egal. Wer jetzt noch den Gemässigten spielt, kann sich schon mal für die Guillotine die Haare schneiden. Es mag sein, dass wir tausend Unschuldige köpfen, aber das ist immer noch besser für die Revolution, als einen Gemässigten zu übersehen.«
»Lieber überfüllte Friedhöfe als überfüllte Gefängnisse«, sagte Saint-Just trocken.
»Kennen wir uns?«, fragte Robespierre, an Charles gewandt.
»Noch nicht«, antwortete Charles und verliess den Raum.
Als Charles und Gorsas das Etablissement verliessen, sprach keiner ein Wort. Stumm gingen sie die Strasse entlang und blieben dann an der Ecke stehen. »Heute war kein Tag, um Champagner zu trinken. Ich muss aufpassen«, sagte Gorsas, »ich habe mir zu viele Feinde gemacht. Irgendwann steht mein Name auf der Liste, und ich spucke in den Sack. Haben Sie schon jemals einen Freund guillotiniert?«
Charles schüttelte den Kopf.
»Sie werden es noch erleben«, sagte Gorsas.
»Warum haben Sie mich heute eigentlich eingeladen?«
Gorsas schaute Charles lange an. »Man weiss heute nicht mehr, wem man trauen kann. Der heutige Abend hat mir gezeigt, dass es gefährlich ist, jemandem zu vertrauen. Hat Sie der Grand Orient de France eigentlich kontaktiert?«
»Nein«, antwortete Charles, »sollte er?«
Gorsas zuckte die Schultern. »Die Menschen haben Angst, Monsieur. Die Angst ist stärker als jedes Gesetz.« Er nuckelte an seiner Pfeife.
»Was wollten Sie mir heute Abend mitteilen, Bürger Gorsas?«
»Ich?«, fragte Gorsas mit scheinheiliger Miene.
»Ja!«, brummte Charles und schaute ihm eindringlich in die Augen.
Gorsas wich seinem Blick aus und schüttelte leicht verwirrt den Kopf. »Ich muss nach Hause, Bürger Sanson, es ist schon spät.« Etwas überstürzt bog er in die schwachbeleuchtete Rue de la Verrerie ein.
Charles folgte ihm. »Wovor haben Sie Angst?«
Gorsas blieb nicht stehen. »Sollte ich?« Er beschleunigte seinen Schritt.
»Ich weiss es nicht. Aber ich sehe, dass Sie Angst haben. Ich kann Menschen lesen, Monsieur. Ein Henker fühlt die Angst der andern.« Er legte Gorsas die Hand auf die Schulter. »Wovor haben Sie Angst?« Sein Ton war beinahe väterlich.
Gorsas schüttelte nervös den Kopf, als wollte er diese Frage nicht mehr hören.
»Ich habe Sie eine Weile nicht mehr gesehen«, sagte Charles. »Waren Sie in Ketten?«
»Nein, nein«, entfuhr es Gorsas blitzschnell, und er schaute ängstlich um sich, »ich war in London, nicht ganzungefährlich in diesen hektischen Zeiten, aber ich war in London, Monsieur.«
»Warum sind Sie zurückgekommen? Das war nicht klug.«
»Nein, nein, es ist nicht das, was Sie jetzt denken. Ich war beruflich in London. Als Journalist. Kennen Sie die Bank Boyd, Ker & Co.? Das war die stolze Bank des jungen Walter Boyd. Er war mit einer sehr hübschen Kreolin verheiratet. Gemeinsam besuchten sie alle Anlässe des Pariser Geldadels und akquirierten Neueinlagen. Das missfiel unseren Revolutionären. Sie beschlagnahmten seine Bank.« Gorsas zuckte plötzlich zusammen und versuchte, in der Dunkelheit zu erkennen, was dieses seltsame Geräusch verursacht hatte. Ein Fenster wurde geschlossen. Jemand hatte Abfälle in die Gasse geworfen. »Der junge Mann hatte aber einen sechsten Sinn«, fuhr er fort. »Er floh in der Nacht, in der er verhaftet werden sollte, nach London. Und wissen Sie, was er mitgenommen hat?«
»Sie werden es mir sagen«, murmelte Charles. Er wollte eigentlich keine Geheimnisse hören. Das brachte ihn bloss in Gefahr. Einige Hunde rannten an ihnen vorbei und stürzten sich auf die Abfälle, die nun in der Gasse verstreut herumlagen.
»Gold«, flüsterte Gorsas, »das Gold des Pariser Adels. Er hat die Vermögen der Royalisten in Sicherheit gebracht. Ich bin nach London gefahren, um mit ihm ein Gespräch zu führen. Und er hat mir etwas gezeigt, nein, er hat mir etwas mitgegeben …«
»Und das macht Ihnen Angst?«, fragte Charles misstrauisch.
»Ja, sehr grosse Angst sogar. Denn wenn jemand weiss, dass ich es weiss, stehe ich vor Ihnen auf dem Schafott.«
»Dann möchte ich es lieber
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