Der Henker von Paris
wenn man nach vorne schaut«, flüsterte sie und streifte ihr Kleid ab. »Aber jetzt, Meister Sanson, erfahren wir kein Leid. In diesem Augenblick sind wir frei von Leid. Deshalb ist der Augenblick das Beste im Leben.«
Sie liebten sich bis in den späten Nachmittag, bis sie satt von der Liebe waren. Dann blieben sie noch lange auf dem Bett liegen und genossen ihr Zusammensein. Als es zu dunkeln begann, tranken sie einen Tee. Dan-Mali erzählte von den Lehren des Siddhartha Gautama, von Buddha.
»Ist Buddha dein Gott?«, fragte Charles.
»Nein«, entgegnete Dan-Mali, »Buddha ist kein Gott, und er ist auch nicht Überbringer einer göttlichen Botschaft. Buddha ist der Weg. Buddha ist eine Philosophie. Ihr habt doch auch Philosophen. Buddha lehrt die Überwindung des Leids. Das setzt eine Erkenntnis voraus, ein Aufwachen, ein Erkennen der vier Wahrheiten. Leiden prägt das menschliche Leben. Dieses Leiden wird durch Gier verursacht.«
Während Dan-Mali dem Henker die asiatische Philosophie näherbrachte, verfügte Robespierre die Aushebung aller unverheirateten Männer zwischen achtzehn und fünfundzwanzig, ein Novum für Europa, das bisher nur Söldnerarmeen gekannt hatte. »Jetzt wollen wir den totalen Krieg«, liess er sich mit schneidender Stimme vernehmen, »gegen aussen und gegen innen.« Er träumte von einem Grossfrankreich, das sich bis zu seinen natürlichen Grenzen erstreckte: Alpen, Pyrenäen, Rhein und Meer. Die Verfassung wurdenach Gutdünken angepasst und raubte der Bevölkerung mit jeder Korrektur mehr Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Der König war durch einen blutrünstigen Diktator ersetzt worden. Robespierre träumte von einem gesäuberten Volk, in dem alles Minderwertige ausgemerzt war.
Im Oktober 1793 schickte das neugeschaffene Revolutionstribunal einundzwanzig Girondisten unter das Fallbeil. Es waren Männer der ersten Stunde, die sich mutig für die Ideale der Revolution eingesetzt hatten. Jetzt wurden sie alle guillotiniert. Anschliessend sollten die Hébertisten an die Reihe kommen, später die Dantonisten, bis nur noch Robespierres Partei an der Macht war. Allein für die Girondisten brauchten Charles und Henri vier Karren für die Fahrt zum Schafott. Es setzte ihnen schwer zu, dass sie ausgerechnet die Väter der Menschenrechte hinrichten mussten. Alle beschworen vor dem Tod die Freiheit, die Errungenschaften der ersten Revolutionsetappe. Es war erschütternd, wie gefasst sie die Stufen zum Schafott hochstiegen. Keiner bettelte um sein Leben. Sie kannten ihre Robespierres und Saint-Justs nur allzu gut. Pierre Vergniaud, ein kaum bekannter Girondist, aber bedeutend genug zum Sterben, rief Charles zu: »Jetzt frisst die Revolution ihre Kinder.«
Charles wünschte sich nur noch eins: dass das alles bald ein Ende nehme. Aber die Sansons brauchten immer mehr Karren. Bis zu fünfzig Todgeweihte pro Tag hatten sie aufs Schafott zu bringen. Henri betätigte immer schneller den Mechanismus des Fallbeils, und Barre und Firmin schnallten die Enthaupteten immer rascher los und kippten sie wie Tierkadaver, die einer Seuche erlegen waren, in den Sturzkarren.Bevor der Kopf fiel, brachten Gros und Desmorets bereits den nächsten Verurteilten die Stufen zum Schafott hoch. Dort wurde er sofort von Firmin und Barre in Empfang genommen, an den Armen gehalten und aufs Brett gebunden, das unverzüglich in die Waagerechte gekippt wurde und nach vorn schoss, während Henri fast gleichzeitig das gewaltige Fallbeil herunterfallen liess. Charles, Henri und ihre Gehilfen waren wie Räder in einem Getriebe aus Eichenbalken, Eisenklinge und menschlichen Armen, die Kraken gleich der Maschine immer aufs Neue Nahrung brachten. Einer nannte die Maschine Göttin der Vernunft. Wenn dem so war, dann waren sie die Diener dieser Gottheit und brachten ihr Menschenopfer dar. Doch Charles war nicht der Einzige, dem das zuwider war. Er beobachtete, wie Firmin immer wieder kreidebleich wurde, Barre torkelte jeweils richtiggehend über das Schafott, als würden ihn seine Beine nicht mehr länger tragen, und Henris lange, dürre Beine zitterten, als würde ein Hauch des Todes um seinen Körper wehen.
Die Pariser Bevölkerung begann zu protestieren gegen das viele Blut, das in den Rinnsteinen floss und streunende Hunde anlockte. Man erwog einen Leinenzwang und alternierende Hinrichtungsstätten. Auch die Anwohner in der Nähe der Friedhöfe Madeleine, Errancis und Picpus protestierten wegen des Gestanks der verwesenden
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