Der Henker von Paris
schwarzen Kapuzenmantel und kniehohe Lederstiefel. Bevor er die Pharmacie betrat, klopfte er die Stiefel gegeneinander, um den Schnee abzuschütteln.
»Legen Sie Ihren Mantel auf die Ofenbank. Dann kann er trocknen.«
»Danke, Monsieur«, sagte der Reiter und nahm seinen Kapuzenmantel ab. Darunter trug er einen vornehmen Zweiteiler aus blauem Stoff. Er setzte sich Charles gegenüber auf einen Stuhl und nahm eine lederne Geldbörse aus seiner Innentasche. Er lockerte den Lederriemen, so dass Charles die Goldstücke darin sehen konnte. »Ich habe sehr einflussreiche Freunde«, begann der Reiter behutsam, »sie sind unserem König treu ergeben. Sie erbitten nichts Unmögliches von Ihnen. Vor einer Stunde wurde unser König zum Tod verurteilt. Wir werden ihn auf dem Weg zum Schafott befreien.«
»Gehen Sie«, sagte Charles und hob abwehrend die Hände, »für kein Geld auf der Welt bin ich für ein Komplott zu gewinnen.«
»Ich weiss«, sagte der Reiter, »deshalb wage ich es auch, Sie aufzusuchen. Ich weiss, dass Sie ein rechtschaffener Mann sind. Wir bitten Sie nur, nichts zu unternehmen, das die Befreiung unseres Königs vereiteln könnte. Bleiben Sie einfach ruhig auf Ihrem Kutschbock, und rühren Sie sich nicht von der Stelle. Ihnen wird nichts geschehen.«
»Ich will dieses Geld nicht«, sagte Charles, »ich mag die willkürlichen Gesetze verurteilen, die heute gelten, aber ich muss sie befolgen. Ich bin ein Beamter der Justiz.«
Der Reiter erhob sich. »Das Geld lasse ich hier. Wenn Sie es nicht wollen, geben Sie es den Armen. Gott schütze unseren König.«
»Gott schütze unseren König«, flüsterte Charles. Der Gedanke, dass sein König unter seiner Guillotine enthauptet würde, brach ihm das Herz. Andererseits, dachte Charles, hatte der König sein Schicksal sich selbst zuzuschreiben. Erhatte die Liebe seines Volkes nie erwidert. Er hatte nichts, aber auch gar nichts für sein hungerndes Volk getan. »Er hat es nicht anders gewollt«, murmelte Charles, »er allein trägt die Schuld.«
11
Am 21. Januar 1793 notierte Charles in sein Tagebuch: »Der Tod des Königs.« Schwierig, dieses Ereignis in Worte zu fassen, denn bisher galt der König als unantastbar, geradezu als von Gott gesandt. Bevor die Kirchenglocke an diesem Morgen acht Uhr schlug, setzte sich Charles mit seinen Gehilfen Barre, Firmin, Desmorets und Gros in einen Wagen und fuhr los. Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto zahlreicher wurden die Menschen in den Strassen. Schliesslich waren es Massen, dichtgedrängt, die ihren Wagen umklammerten wie ein grosser Krake. Charles und seine Gehilfen passierten einen Militärkordon nach dem anderen. Es waren Tausende mit Gewehren und Piken bewaffnete Soldaten, die unter Santerre, dem neuen Befehlshaber der Nationalgarde, die Strassen sicherten. Es herrschte eine gespenstische Stille. Kein Gejohle, keine Rufe, einfach Stille, als hätten sich alle zu einer sakralen Handlung zusammengefunden. Als sie schliesslich gegen zehn die Place de la Révolution erreichten, thronte das Blutgerüst mit der majestätischen Guillotine bereits über dem Platz. Erneut war Charles von dieser Erscheinung beeindruckt. Das Gerüst unter freiem Himmel hatte eine Erhabenheit, als würde hier ein zeremonielles Opfer dargebracht.
Henri stand bereits auf der Plattform des Podests. Er gab einem berittenen Soldaten ein Handzeichen, seinem Vater den Weg zu bahnen. Charles fühlte, wie sich seine Brust immer heftiger hob und senkte. Er tastete unter seine Jacke und versicherte sich, dass Dolch, Pistole, Pulverbüchse undKugeltasche noch fest verzurrt waren. Er hatte Angst. Die Drohbriefe in den letzten Tagen waren so zahlreich gewesen, dass er nicht daran zweifelte, dass man den Verurteilten befreien würde. Immer wieder schaute er zum Ausgang der Rue de la Révolution, er konnte keine Bewegung in den Massen ausmachen, keine Kutsche, die den Unglücklichen zum Schafott fuhr. Doch plötzlich hörte er Geräusche von Hufen und Rufe. Ein Kavalleriekorps sprengte heran. Die Oberkörper der Kavalleristen ragten aus der Menge, und dann sah Charles die königliche Kutsche. Er setzte sich kurz auf das Brett der Guillotine und atmete tief durch. Ihm wurde schwarz vor Augen. Der Schweiss trat ihm aus allen Poren. Es kostete ihn Überwindung aufzustehen. Er fühlte keinen Halt mehr unter den Füssen. Die Holzbohlen bewegten sich und schienen davonzuschwimmen. Er dachte an Gabriel. Er dachte an Dan-Mali, und schon bald wusste er nicht
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