Der Henker von Paris
bekümmert. Er schaute den Gehilfen lange nach, als sie sich erneut durch die Menschenmenge kämpften, um trockenes Holz zu beschaffen. Nach einer halben Stunde kam der Erste zurück und sagte, dass niemand ihnen trockenes Holz geben wolle.
»Warum?«, fragte Nicolas Sanson.
»Ich weiss es nicht. Es scheint so, als würden die Leute nicht gutheissen, was wir hier tun.«
Nun gab Charles Befehl, mit der Axt Bretter aus der Palisadenwand unter dem Schafott herauszuschlagen, das Feuer erneut anzufachen und das Öl zu erhitzen. Die Warterei setzte auch ihm langsam zu. Damiens war wieder bei Bewusstsein und brüllte wie von Sinnen. Seine Stimme war rau geworden. Flehend schaute er seine Henker an.
»Wollen wir es noch mal mit Soubise versuchen?«, fragte Charles seinen Onkel leise. Dieser war kreidebleich, wusste er doch, dass Soubise vor Mittag des nächsten Tages nicht wieder nüchtern sein würde. Es war nicht die Aufgabe desHenkers, die Tortur des Zangenreissens auszuführen, aber es war niemand sonst da, der es hätte ausführen können. Der Gerichtsdiener und Doktor Boyer drängten die Sansons mit energischem Blick, die grauenhafte Prozedur zu beginnen.
Sechs Gehilfen standen nun um Damiens herum und warteten stumm auf neue Befehle. Charles nickte lediglich. Auf dieses Zeichen hin ergriff ein Gehilfe blitzschnell Damiens’ rechten Arm und streckte ihn, bis die Hand weit über den Rand des Holzaltars hinausragte. Während ein zweiter Gehilfe die räuchernde Schnabelpfanne vom Rost nahm, schob ein weiterer das Feuerbecken unter Damiens’ Hand. Instinktiv versuchte dieser, sie zurückzuziehen. Mit riesengrossen Augen starrte er auf seine Hand, als wisse er nicht genau, was nun mit ihr geschehen würde. Nicolas Sanson übergoss sie mit heissem Öl. Damiens brüllte, wie Charles noch nie ein menschliches Wesen hatte schreien hören. Damiens’ Zähne verkeilten sich ineinander, während seine Lippen platzten und das Blut über sein Kinn strömte. Nach wenigen Minuten war die Hand, die den König verletzt hatte, nur noch ein verkohlter Stummel.
Nicolas Sanson stand starr vor Schreck vor Damiens. Die glühende Pfanne hielt er noch in der Hand. Charles war blass geworden. Sein Atem raste. Er hatte sich geschworen, die Hinrichtung unten an der Treppe zum Schafott durchzustehen. Doch nun stand er oben und wurde von Tausenden von Menschen beobachtet. Die ganze Menschenmasse schien das Schafott wie ein gefährliches dunkles Meer zu umschliessen, und Charles wusste, dass es kein Entrinnen gab, solange die Sache nicht beendet war. Er konnte nichtfliehen. Die Menge hätte ihn dafür gelyncht. Er hatte es durchzustehen. Er griff in seine Tasche und umschloss das Amulett, das ihm Grossmutter Dubut gegeben hatte.
Entschlossen ging er nun auf einen der Gehilfen, André Legris, den Henker von Orléans, zu und bot ihm einhundert Livre, falls er das Zangenreissen übernehmen würde. Obwohl André Legris wesentlich älter war als Charles und in seiner Stadt sehr geachtet, akzeptierte er sofort, dass er hier nur ein Gehilfe war und der minderjährige Charles Sanson die Kontrolle über das Schafott innehatte. »Ja, Monsieur de Paris«, antwortete er und nickte, wobei er den Kopf respektvoll senkte. Beinahe hastig nahm er die lange Zange und hielt sie ins Feuerbecken. Charles nahm seinem Onkel die glühende Pfanne aus der Hand und setzte sie wieder auf den Rost. Pater Gomart ging schweren Schrittes zu Damiens zurück und hielt sich erschöpft am Rande des Holzaltars fest. Erneut tupfte er den kalten Schweiss von Damiens’ schmerzverzerrtem Gesicht. Der Pater sagte etwas, aber kein Mensch konnte es verstehen. Auch ihm hatte es die Kehle zugeschnürt. Auch Doktor Boyer näherte sich Damiens. Er schien von Schwindel befallen und keuchte wie ein altes Pferd. Mit zitternder Hand befühlte er Damiens’ Puls. Er nickte dem Gerichtsdiener zu, der nun wiederum den Sansons zunickte. Charles gab André Legris das Zeichen. Sogleich setzte dieser die glühende Zange auf Damiens’ nackte Brust. Der Unglückliche bäumte sich auf, ohne einen Laut von sich zu geben, während die Zange ihm einen grossen Fetzen Fleisch mitsamt der Brustwarze aus dem Körper riss. Der Henker von Lyon, auch er nur ein Gehilfe hier in Paris, goss kochendes Öl in die blutendeWunde. Zischend verbrannte das Fett und verströmte erneut den Geruch von verschmortem Menschenfleisch über den Platz. Der Henker von Orléans riss nun klaffende Wunden in Arme, Bauch und
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