Der Henker von Paris
ihr folgen, doch da trat ein Mann unter dem Schafott hervor und hielt ihn auf. Er hatte offenbar auf ihn gewartet. »Der Applaus galt Ihnen. Sie werden gefeiert.« Der junge Mann war vielleicht zehn Jahre älter als Charles, kleingewachsen, schmächtig und von sehr blassem Teint. Er trug einen hellbraunen Frack, eine teure Piquéweste, eine senfgelbe Hirschlederhose und Stulpenstiefel und nuckelte an einer Tonpfeife. Wichtigtuerisch sagte er: »Ich bin vom Courrier de Versailles. Gorsas mein Name.« Dabei starrte er in den Himmel, als sei er eine gewichtige Persönlichkeit, die für ein Gemälde posierte. »Sie haben bestimmt schon von mir gehört. Oder gelesen. Gelesen. Gorsas mein Name. Ich unterzeichne immer mit meinem Namen.« Er steckte sich die Pfeife wieder in den Mund. Sein ganzer Habitus hatte etwas Lächerliches, als versuchte ein Kind, einen Erwachsenen zu imitieren.
»Ich habe leider noch zu tun, Monsieur Gorsas.« Charles wandte sich von ihm ab und wollte weggehen, aber Gorsasfolgte ihm schnellen Schrittes und stellte sich ihm erneut in den Weg. Er nahm seine Pfeife aus dem Mund und tippte Charles gönnerhaft auf die Schulter.
»Nicht so schnell, Monsieur de Paris. Sagen Sie unseren Lesern, was Sie empfunden haben, als Damiens gevierteilt wurde.«
»Ich hoffte, es möge bald vorbei sein.«
Gorsas nickte gewichtig mit dem Kopf und setzte dann einen leidenden Gesichtsausdruck auf. »War wohl nicht einfach für einen jungen Mann wie Sie«, sagte er, »aber das Volk mag Sie. Sie machen eine gute Figur, Monsieur. Sie sind eine stattliche Erscheinung. Wissen Sie, die meisten Menschen geben nichts her und hüllen sich in edles Tuch. Aber Sie, Sie würden sogar nackt gewaltig imponieren. Wir sehen uns noch, Monsieur de Paris, ich habe Sie jetzt im Auge.«
Charles hielt erneut Ausschau nach Dan-Mali, liess es aber nach kurzer Zeit bleiben. Was hätte er ihr denn erzählen sollen? Sie hatte wahrscheinlich die ganze Hinrichtung verfolgt und ihn nicht aus den Augen gelassen. Dem gab es nichts hinzuzufügen. Sie hatte wohl längst ihr Urteil über ihn gefällt. Aber ihr Gesicht hatte er nicht wirklich gesehen. Vielleicht war sie es gar nicht gewesen. Es gab schliesslich noch mehr Frauen aus dem Königreich Siam in Paris. Aber die Angst, dass es doch Dan-Mali gewesen sein könnte, war so gross, dass er sich zutiefst schämte.
Charles konnte an diesem Abend nicht gleich nach Hause gehen. Onkel Nicolas sagte, er werde den Abbau des Schafotts überwachen und anschliessend die Henker und ihre Gehilfen zu einem Mahl in Jean-Baptistes Haus einladen.Grossmutter Dubut habe es so bestimmt, und auch dass die Henker in der Scheune übernachten sollten, bevor sie am anderen Morgen die Rückreise antraten. »Du hast heute eine grosse Leistung vollbracht, Charles«, sagte er noch, »eines Tages wirst du ein grosser Henker werden. Deinem Vater fehlte stets die Kraft für dieses Amt. Es war zu gross für ihn. Aber dir bringt man Respekt entgegen.«
Charles wollte etwas darauf entgegnen, denn es gab dazu einiges zu sagen, aber er schwieg. Vielleicht wollte er das Lob nicht trüben, das er soeben erfahren hatte. Er wusste es nicht. Wenn Menschen reden, tun sie so, als wüssten sie alles. Er wusste gar nichts mehr. Alles, was er zu wissen geglaubt hatte, war an diesem Abend mit Damiens’ Leichnam verbrannt. Und die überraschende Anwesenheit von Dan-Mali hatte ihm vor Augen geführt, dass er keine Chance für ein normales Leben mehr haben würde. Es quälte ihn fürchterlich, dass Dan-Mali ihn gesehen hatte.
Charles hetzte durch die Strassen, ohne Ziel. Er wollte unter keinen Umständen nach Hause und die Freude in den Gesichtern seines Vaters und seiner Grossmutter und all seiner Geschwister sehen. Das hätte ihn noch mehr gedemütigt. Denn was ihnen Freude bereitete, hatte ihn zutiefst verletzt, erschüttert, ja gebrochen. Er konnte es nach wie vor kaum fassen, dass der Mensch in der Lage war, einem Artgenossen so viel Leid und Schmerz zuzufügen. Und es war für ihn unglaublich, dass ganz Paris das hatte sehen wollen. Er hatte es nicht sehen wollen. Aber er hatte keine Wahl gehabt. Unruhig trieb er sich in der Nähe des Jardin du Palais Royal herum und überlegte, ob er eine der zahlreichen Spielhöllen aufsuchen sollte. Aber er hatte kaum Geld beisich. Und um sich in eins der grossen Kaffeehäuser zu setzen, fehlte ihm die Ruhe. Er wollte das Geschwätz der Menschen über die Hinrichtung nicht hören. Was hatten die denn
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