Der Henker von Paris
beiden Platten stärker aufeinander, während seine Gehilfen Damiens mit aller Kraft festhielten. Doch plötzlich wurde Damiens’ Gesicht kreideweiss. Das Blut wich aus seinen Lippen, und sein Kopf sackte erneut auf die Brust. Der vorsitzende Richter gab dem Arzt einen Wink. Doktor Boyer befühlte Damiens’ Puls an der Halsschlagader. Mit dem Daumen hob er das Lid des rechten Auges. »Nichts Ernstes«, sagte er. Daraufhin reichte ein Gehilfe Frémy einen grossen Nagel. Frémy trieb ihn, ohne zu zögern, mit grosser Wucht durch das erste Loch der Eisenplatte. Der Nagel durchbohrte Fleisch und Knochen des Unglücklichen, bis er durch das Loch der zweiten Platte wieder heraustrat. Mit dem ersten Stoss war Damiens wieder zu sich gekommen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er zum Gewölbe hoch und schrie: »Gebt mir Wein!« Frémy und seine Gehilfen drehten sich nach Nicolas Sanson um. Charles wusste nicht, ob es seine Aufgabe war, Damiens Wein zu bringen. Doch als der Onkel ihm zunickte,verstand er, dass es seine Aufgabe war. Eine unbeschreibliche Schwäche erfasste Charles. Gleichzeitig fühlte er, wie sein Mund pelzig wurde. Er versuchte zu schlucken, aber jeder Muskel in seinem Rachen zog sich krampfhaft zusammen, als hätte ihm Frémy den spanischen Stiefel an den Hals gesetzt. Er wankte zum Tisch und goss Wein aus einer Karaffe in einen Becher. Langsam ging er zu Damiens hinüber. Jeder Schritt ein Berg. Er legte Damiens die eine Hand auf die Schulter und führte mit der anderen Hand den Becher zum Mund. Damiens benässte nur die Lippen. Als Charles ihn losliess, stiess er den Kopf nach vorn und öffnete leicht den Mund. Er wollte mehr trinken. Charles gab ihm mehr. Dann öffnete Damiens die Augen und starrte Charles direkt ins Gesicht. Er liess die Augen rollen und flüsterte: »Spart den Wein für das Volk von Paris. Gebt ihn den Armen. Für sie werde ich sterben. Tod dem König und der Monarchie!«
Kaum hatte Damiens die Worte ausgesprochen, schlug Frémy den zweiten Nagel durch die Metallplatte. Er schlug ihn so wuchtig, dass er den Knochen des Schienbeins zersplitterte. Damiens schrie, brüllte, flehte, doch Frémy schlug auch den dritten und vierten Nagel in Damiens’ Unterschenkel. Dessen Schreie schienen unter der hohen Kuppel abzuprallen und wie Katapultgeschosse auf alle niederzuprasseln. Er hielt nun keine Sekunde mehr still. Er schrie und brüllte wie von Sinnen seinen Schmerz heraus, und Charles sah, dass nun selbst Richter Molé, der sich Damiens genähert hatte, um ihm die erste Frage zu stellen, am ganzen Körper bebte und zitterte. Molé wollte Namen hören, wollte wissen, ob es eine Verschwörung gegeben habe, ob noch andere Leute daran beteiligt waren. »Ja«, schrieDamiens mit beinahe fröhlicher Stimme, »die Strassen von Paris sind voll davon. Ihr habt nicht genug Soldaten, um sie alle zu töten, denn es gibt Hunderttausende von Damiens.« Molé schien nun sehr aufgeregt. Er hoffte, Namen zu hören. »Namen!«, insistierte er. Doch Damiens lachte böse, erzählte wieder von der Hexe und behauptete, sie sei nicht auf einem Besen geritten, sondern auf einem Riesenpenis, weil es Satan war. »Satan!«, brüllte er. »Geht hinaus in die Strassen, und ihr werdet sehen, dass ich die Wahrheit sage. Überall werdet ihr die Kröten sehen, die ihrer Fotze entsprungen sind. Und ihr hört sie von weitem, denn sie furzt wie ein Blasorchester, und die nasse Luft, die aus ihrem Arsch pfeift, hinterlässt überall Tod und Verwüstung.«
Beim siebten Nagel stiess Damiens nur noch einen einzigen gellenden und nicht mehr enden wollenden Schrei aus und erbrach sich über Frémys Nacken. Damiens zitterte am ganzen Leib. »Nehmt ihm den Stiefel ab«, sagte jemand. Es war Maupeou. Fassungslos sass er hinter dem Tisch und starrte ins Leere. Zu seiner Rechten sass Molé, der von Boyer verarztet wurde. Er hatte offenbar einen Schwächeanfall erlitten. Frémy nahm Damiens den spanischen Stiefel ab, und seine Gehilfen legten Damiens auf eine Bahre und trugen ihn in den Hof hinaus.
Dort standen die zwei mit Pferden bespannten Karren der Sansons. Eine riesige Menschenmenge stand bereits vor dem Tor der Conciergerie und wartete auf das Bündel Mensch, das nun in einer langen Prozession der Hinrichtung zugeführt werden sollte. Die Karren waren offen und mit zwei gegenüberliegenden Sitzbänken bestückt. Sie wurden von Bewaffneten eskortiert. Es waren Angehörige derMaréchaussée, der französischen Nationalpolizei.
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