Der Henker von Paris
Oberschenkel. Ein weiterer Gehilfe goss brennendes Harz in die eine Wunde und Schwefel in die anderen. Schliesslich griff der Henker mit der Zange nach Damiens’ Geschlecht und riss es aus. Wie in einem Wahn arbeiteten die Gehilfen das Urteil an dem sterbenden Körper ab, während Damiens wie besoffen vor Schmerz brüllte. Es klang bald wie das Röhren eines brünstigen Hirsches, dann wieder wie das herzzerreissende Wimmern eines Neugeborenen. Doch plötzlich schrie er wie von Sinnen: »Mehr, gebt mir mehr, ich liebe es, ich liebe es! Gebt mir mehr!« Diese Stimme hallte über den Platz wie ein Orkan. Sie hatte nichts Menschliches mehr an sich und liess die Massen erschauern. Die Stimme war das Gebrüll Satans aus dem Reich des Leidens und des Fegefeuers.
Damiens verlor erneut das Bewusstsein. Eine seltsame Stille legte sich über den Platz. Man hörte nur das Wiehern der vier Pferde am Fusse des Schafotts. Vier Gehilfen hatten je ein Pferd an den Zügeln genommen und zu je einer Ecke des Schafotts geführt. Nun warfen sie ihren Kollegen auf dem Schafott die langen Dressurzügel zu. Diese fingen sie auf und befestigten sie mit geübten Handgriffen an Armen und Beinen des kläglich verendenden Damiens. Es herrschte immer noch Totenstille. Selbst ein Räuspern auf dem Platz hätte man jetzt vernommen. Es hatte aufgehört zu regnen. Charles gab den Gehilfen, die neben den Pferden standen, das Zeichen anzufangen. Sie nahmen die Pferde am Halfter und führten sie vom Schafott weg. Nach wenigen Schrittenblieben sie stehen. Damiens’ Körper widerstand. Sie versuchten es erneut. Vier sechshundert Kilo schwere Kolosse versuchten gleichzeitig, die Arme und Beine aus dem Rumpf eines Sterbenden herauszureissen. Damiens’ linkes Bein wurde dabei ausgerenkt, aber nicht abgerissen. Das Pferd, das das rechte Bein entwurzeln sollte, knickte ein und stürzte. Ein ohrenbetäubender Schrei des Entsetzens erfasste nun plötzlich die Menschenmasse. Wie konnte Damiens’ Bein der Kraft eines Pferdes widerstehen? Erneut wurden die Pferde angetrieben. Damiens’ rechtes Bein und beide Arme wurden nun ausgerenkt. Aber nach wie vor hielt sein Körper stand. Und abermals wurden die Pferde angetrieben. Sie setzten sich in Bewegung, doch die Glieder hingen immer noch am Rumpf. Charles wagte einen Blick auf Damiens. Er sah, wie sich dessen Arme und Beine in grotesker Art und Weise verlängert hatten, aber Muskeln und Sehnen hielten die Extremitäten immer noch am Rumpf. Es war kaum zu fassen. Der Anblick dieses geschundenen, zerrissenen, blutüberströmten, zuckenden Leibes, der wie ein Stück verbrannten Fleisches vor sich hinräucherte, raubte Charles beinahe das Bewusstsein. Ihm schien, als würden die Bretter des Schafotts unter ihm nachgeben. Pater Gomart fiel vor dem Sterbenden auf die Knie und hielt nun mit beiden Händen zitternd sein Kreuz. Immer lauter sprach er seine Gebete, als wollte er mit seiner eigenen Stimme all seine Gedanken vertreiben. Er schloss dabei die Augen, weil er das, was sie sahen, nicht mehr sehen wollte. Sein Gesicht war tränenüberströmt. Er schrie die Gebete verzweifelt zum Himmel hinauf. Charles nahm die feine Schnur vom Serviertisch und fragte den Gerichtsdiener, ob die Vertreter der Justizdas Retentum erlaubten. Das war eine geheime Klausel, die oft in den Strafurteilen enthalten war und dem Henker das Recht gab, den Verurteilten mit einer feinen Schnur heimlich zu erdrosseln, bevor man ihm alle Knochen brach oder ihn aufs Rad flocht. Der Gerichtsdiener schwieg. Er starrte über Charles’ Kopf hinweg. Zu spät bemerkte er, dass der Gerichtsdiener dabei war, das Bewusstsein zu verlieren. Er stürzte steif wie ein Brett zu Boden. Mitten auf das Gesicht. Das Blut floss in grossen Mengen aus seinem Mund. Charles legte ihn seitlich auf die Holzdielen, damit das Blut abfliessen konnte. Doktor Boyer kniete neben ihm nieder, nicht etwa um ihm zu helfen, sondern weil seine eigenen Beine ihn nicht mehr länger trugen. Er stützte sich mit beiden Händen auf dem bewusstlosen Gerichtsdiener ab. Für die Menge machte es wohl den Anschein, als würde er diesen verarzten. Aber Doktor Boyer brauchte selbst einen Arzt.
Nun erfasste ein tiefes Grollen die Menschenmasse. Zuerst klang es wie ein entferntes Murmeln, doch dann wurde es lauter und heftiger. Wie im Sturm eroberte es das Schafott. »Trennen Sie die Muskeln, zerschneiden Sie die Sehnen«, keuchte Doktor Boyer und trieb Charles heftig nickend zur Eile an. André
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