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Der Henker von Paris

Der Henker von Paris

Titel: Der Henker von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claude Cueni
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Legris stand bereits mit der Axt hinter Charles. Dieser nickte ihm zu. Rasch näherte sich der Henker von Orléans dem sterbenden Damiens und trennte mit fürchterlichen Axthieben Arme und Beine vom Rumpf. Die Pferde wurden erneut angetrieben und rissen Damiens in Stücke. Sein linkes Bein flog durch die Luft und klatschte dem sich aufrappelnden Gerichtsdiener ins Gesicht.
    Damiens’ Rumpf atmete noch schwach. Er hatte die Augen weit offen, den Blick in den Wolkenhimmel gerichtet.Blutiger Schaum hatte sich auf seinen Lippen gebildet. Sein pechschwarzes Haar war plötzlich weiss wie Schnee. Ganz Paris sprach später davon, und alle grossen Tageszeitungen Europas erwähnten das Phänomen auf ihren Titelseiten. Aber es war nichts weiter als Asche.
    Zaghaft begann die Menge zu applaudieren. Es war spät geworden. Onkel Nicolas gab seinem Neffen ein Zeichen, das Schafott abzuschreiten. Charles schritt langsam das hölzerne Viereck ab, während die Menge »Sanson, Sanson« skandierte. Dann blieb er auf der Westseite stehen und umfasste die Brüstung wie ein römischer Triumphator den Bügel seines Streitwagens beim Einmarsch in Rom. Tosender Applaus brandete über den Platz. Charles verzog keine Miene. Er senkte leicht den Kopf, als wollte er sich bei der Menge demütig bedanken. »Sanson, Sanson«, skandierten sie ohne Unterlass. Jetzt wirkte er eher wie ein gehorsamer Gladiator im alten Rom, der allein durch seine Körpergrösse und athletische Konstitution die Menge begeisterte. Charles liess seinen Blick immer wieder über die Menge auf der Place de Grève schweifen und realisierte nach und nach, dass Paris ihn feierte. Er spürte, wie eine ungeheure Kraft ihn durchflutete, und er fühlte sich plötzlich stark, unbesiegbar und mächtig. Er schritt zur Nordseite und nahm dort erneut Ovationen entgegen, dann schritt er nach Osten und schliesslich nach Süden. Auch hier verbeugte er sich kurz und wandte sich dann den Beamten der Justiz zu. Diese nickten ihm anerkennend zu. Sie waren zufrieden. Auch sein Onkel nickte ihm zu. Er schien überrascht, wie begeistert die Menge den neuen Monsieur de Paris verabschiedete.
    Die Gehilfen übergaben Damiens’ Körperteile dem Feuer. Die Abenddämmerung legte sich wie Asche über ihre Häupter. Langsam begann sich die bluthungrige Meute aufzulösen und in den anliegenden Gassen und Strassen zu verschwinden. Die Menschen kehrten in ihre Villen oder ihre erbärmlichen Behausungen zurück. Als der Regen wieder einsetzte, standen immer noch Hunderte von Gaffern herum. Jetzt, da die Hinrichtung zu Ende war, nutzten einige die Gelegenheit, das Schafott aus der Nähe zu betrachten. Die Gehilfen begannen mit der Demontage. Charles stand immer noch oben an der Treppe, während der Leichnam des Gemarterten verbrannte und die Henker in beissenden Rauch hüllte.
    Charles war in eine fremde Welt eingedrungen, in eine Welt, die schrecklich war. Er spürte, dass fortan das Blut, das seine Vorfahren vergossen hatten, auch in seinen Adern fliessen und sein Geschlecht auf immer besudeln würde. Er fühlte sich einsam und schämte sich, dass er den Applaus klammheimlich genossen hatte. Sein Verhalten widerte ihn an. Und so schwor er in jenem Moment, die Menschen fortan zu meiden. Er wollte nicht unter ihnen leben. Er wollte allein sein und sich von dieser fürchterlichen Rasse fernhalten. Er wollte nicht einer von ihnen werden. Es entsetzte ihn, dass er imstande gewesen war, das zu tun, und dass er sich alles insgeheim noch viel schlimmer vorgestellt hatte. War das schon alles? Ist mein Herz aus Stein, oder bin ich noch zu jung, um richtige Anteilnahme und Trauer zu empfinden?, fragte er sich. Wer den Schmerz nicht kennt, kann auch keine Anteilnahme für den Schmerz anderer empfinden. Das wusste er. Vielleicht war es so, vielleichtwar es aber auch ganz anders. Er war hin- und hergerissen zwischen Ekel und Stolz.
    Der Platz leerte sich nun sehr rasch. Und da entdeckte er sie in der abziehenden Menge: Dan-Mali. »O mein Gott«, entfuhr es ihm, und er stieg eilig die Treppe des Schafotts hinunter. Er wollte sie aufhalten und ihr alles erklären. Sollte denn dieser gottverdammte Fluch alles Schöne zerstören, was ihm in seinem weiteren Leben begegnen sollte? War denn das Opfer nicht gross genug, das er heute gebracht hatte? Musste er Dan-Mali verlieren, bevor er sie überhaupt gewonnen hatte? »Dan-Mali!«, schrie er, aber die zierliche Siamesin drehte sich nicht um. Die Menge verschlang sie. Er wollte

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