Der Henker von Paris
Fensterplatz. Auch Menschen, die man sich aufgrund ihres Auftretens, ihrer Kleidung und ihrer Manieren eher in einem literarischen Salon vorstellen konnte, harrten seit Stunden auf den Balkonen der Stadtpaläste aus, um die grausamste Hinrichtung des Jahrhunderts zu sehen. Sie lasen Voltaire, Rousseau, Montesquieu und wollten dennoch diesen Damiens leiden und sterben sehen.
Vor dem Schafott teilte sich die Menge. Soldaten bahnten den Weg und bildeten ein Spalier. Nicolas Sanson winkteden Gehilfen zu, die oben auf dem Schafott warteten. Sie waren sichtbar erleichtet, als sie seine Mannschaft sahen. Das Ausharren inmitten dieser unberechenbaren Menge, die nach Blut lechzte, hatte sie in Angst und Schrecken versetzt. Eingeschüchtert stiegen sie die Treppe des Schafotts hinunter und warfen verstohlene Blicke in den Karren. Damiens krümmte sich wie ein verstümmelter Wurm.
»Tragt ihn hinauf«, befahl Onkel Nicolas und nahm seinen Neffen beiseite. Sie hörten erneut Damiens’ Schreie. Verzweifelt rief er seine Frau zu Hilfe und bat um Vergebung. »Du kannst am Fuss der Treppe warten und das Zeichen geben«, sagte Onkel Nicolas. Er hatte sich den Ablauf offenbar anders überlegt. Doch Charles schüttelte den Kopf. Der neue Monsieur de Paris wollte sich vor niemandem verkriechen. Wohl hatte man ihm dieses verhasste Amt aufgezwungen, aber er wollte allen beweisen, dass man ihn damit nicht gebrochen hatte. Erhobenen Hauptes stieg Charles aufs Schafott. Als er die hölzerne Bühne erreicht hatte und die riesige Menschenmenge überblickte, realisierte er endgültig, dass er nun das Erbe der Sansons angetreten hatte und fortan Teil des Schafotts war.
Die Gehilfen, die im zweiten Karren gefolgt waren, verteilten sich um das Schafott herum. Einige stiegen die Treppe hoch. In der Mitte des Schafotts hatten sie in der Nacht ein kleines Podest errichtet, einen hölzernen Altar von ungefähr einem Meter Höhe. Darauf legten sie Damiens und banden ihn fest. Sein Kopf ruhte auf einem Strohsack und war dem heissen Schwefeldampf ausgesetzt, der aus einem Feuerbecken aufstieg. Über den glühenden Kohlen war ein Rost, auf dem eine Schnabelpfanne erhitzt wurde.Der beissende Geruch wehte über den ganzen Platz und versetzte die Menge in eine schier unglaubliche Erregung. Neben dem Feuerbecken stand ein schmaler Serviertisch, der mit schwarzem Samt überzogen war. Darauf lagen fein säuberlich angeordnet: Zangen, lange Metzgermesser, eine Säge und ein Beil. Kaum sichtbar die feine, zusammengerollte Schnur für den Fall, dass doch noch das Retentum gewährt wurde. Pater Gomart versuchte, dem unaufhörlich schreienden Damiens gut zuzureden. Er tupfte ihm den kalten Schweiss von der bleichen Stirn und nahm eine kleine Weihwasserflasche hervor. Er besprenkelte den Todgeweihten und sprach die Absolution, während Damiens wie in einem fiebrigen Wahn einzelne Worte nachsprach. Als Pater Gomart das Totengebet anstimmte, mahnten die Abgesandten des Gerichts zur Eile. Graue Wolken zogen über den Platz, als missfiele dem Himmel, was hier unten geschah.
»Wo ist Soubise?«, fragte Nicolas Sanson und schaute unruhig in die Runde. Doch die Henkersgehilfen, die den Sansons beistehen sollten, standen stumm in ihren rehbraunen Lederschürzen und schauten ihrerseits ratlos umher. Plötzlich ertönte ein lauter Rülpser. Alle blickten reflexartig zur Treppe. Der alte Mann, der den Namen einer Zwiebelsauce trug, quälte sich hoch. »Soubise, Monsieur«, lallte er und wankte über die Holzdielen. Vor dem unglücklichen Damiens blieb er stehen und griff nach der Zange.
»Wo ist das Öl?«, fragte Nicolas Sanson mit schneidender Stimme. Drohend ging er auf den Trunkenbold zu. Soubise machte eine unwirsche Bewegung mit der Zange und traf aus Versehen die eigene Stirn. Charles entriss ihmentschlossen die Zange und gab den Gehilfen den Befehl, Soubise wegzuschaffen. »Beschafft uns Öl!« Die Gehilfen schwirrten aus. Pater Gomart benutzte die Unterbrechung, um sich erneut Damiens zu nähern und Gebete zu sprechen. Die Beamten des Gerichts standen mit eiserner Miene da und warteten. Es begann zu regnen.
Es dauerte über eine Stunde, bis der erste Gehilfe sich durch die Menschenmassen hindurchgekämpft hatte und mit dem Öl wieder auf dem Schafott erschien. Mittlerweile war die Glut im Feuerbecken erloschen. Ein Gehilfe versuchte vergeblich, das Feuer von neuem zu entfachen.
»Wir brauchen trockenes Holz«, sagte Nicolas Sanson. Er war nun sehr unruhig und
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