Der Henker von Paris
grosszügig geschwungene Treppe hinunterstieg, begegnete er einem jungen Mann, der sichtlich erschrak, als er ihn sah. Er hatte den jungen Henker ohne Zweifel erkannt. Charles blieb auf der Treppe stehen und schaute zum oberen Stock hinauf. Dort stand die Marquise lächelnd in ihrem rosafarbenen Morgenmantel.
»Meine Schwester, Madame la Marquise, trinkt Tee mit dem Henker von Paris?«
Die Marquise reagierte irritiert und schaute Charles fragend an. Sein Schweigen deutete sie als Bejahung. Der junge Mann ging an Charles vorbei, ohne ihn zu beachten,und nahm amüsiert die letzten Stufen, bis er seine Schwester erreicht hatte.
»Sie haben mich getäuscht!« Ein unterdrücktes Kreischen entfuhr der Marquise, und ihre Stimme überschlug sich: »Wenn ich gewusst hätte, dass Sie der Henker sind, mon Dieu!«
»Ist Ihnen denn dadurch ein Schaden entstanden, Madame?«, fragte Charles galant, wenngleich mit einem unverkennbar süffisanten Unterton in der Stimme und setzte seinen Weg fort.
»Mein Anwalt wird es Ihnen sagen, seien Sie gewiss, Monsieur de Paris«, warf sie ihm hochnäsig nach und verschwand von der Brüstung.
Wieder zu Hause, fühlte Charles sich schäbig und hohl. Es kam ihm vor, als hätte er auch dies nur aus Trotz getan. Um sich an den Adligen zu rächen, die ihn verachteten. Das Abenteuer mit der Marquise enttäuschte ihn im Nachhinein. Er hatte sich mehr Befriedigung erhofft, mehr Freude und Genugtuung.
Charles verkroch sich regelmässig in der Pharmacie und las die Bücher, die er in den Pariser Druckereien kaufte. Es war ein erhabenes Gefühl, die Möglichkeit zu haben, Wissen zu kaufen. Und immer wieder vertiefte er sich in Diderots Encyclopédie . Er versank in der Welt der Pflanzen und Heilstoffe und vergass, was ihn zuvor noch gequält hatte. Doch seine Träume erinnerten ihn daran, dass er sich tagsüber etwas vormachte. Er träumte nachts noch immer von Dan-Mali und konnte sich am nächsten Morgen sogar daran erinnern, worüber sie gesprochen hatten. Es war merkwürdig, denn er wusste durchaus, dass dieWorte in seinem Traum seiner Phantasie entsprungen waren.
Mit der Zeit vergass Charles den Zwischenfall mit der Marquise und verrichtete mit immer grösserer Routine seine Arbeit auf dem Schafott. Als Jean-Baptiste sah, dass Charles mit seiner neuen Rolle klarkam, beschloss er, zusammen mit der Magd und den minderjährigen Kindern nach Brie-Comte-Robert zu ziehen, auf ein kleines Gut auf dem Lande. Er glaubte, der Tod stehe unmittelbar bevor. Er hatte schreckliche Visionen. Von Zeit zu Zeit verlor er sich in wirren Gedanken. Er sagte, wenn das Schicksal einem übel mitspielen wolle, genüge es nicht, einen Menschen zu lähmen, man müsse ihn danach noch möglichst lange leben lassen, damit er lerne, zu hadern und sich zu grämen.
Auch Dominique war ausgezogen. Sie hatte geheiratet und wohnte bei ihrem Mann, einem Eisenwarenhändler, in Beaune. Charles blieb mit den Henkersgehilfen Barre, Firmin, Desmorets und Gros allein im Haus zurück. Die vier kümmerten sich um die Pferde, das Werkzeug, verrichteten Reparaturen und machten Besorgungen. Und Gros kochte. Er kochte schlecht, aber er war der Einzige, der für diese Arbeit in Frage kam, da er früher in einer Bäckerei tätig gewesen war. Er war ein freundlicher, kleingewachsener Mann mit rundem Gesicht, ein gutmütiger Kerl, der für alle im Haus stets aufmunternde Worte fand.
Barre und Firmin waren junge Metzger, die in einem Schlachthaus gearbeitet hatten. Die beiden verbrachten ihre ganze Freizeit zusammen. Barre war ebenfalls kleingewachsen, aber breit gebaut, mit mächtigen Oberarmen wieein Matrose. Er wirkte oft sehr verbissen, so dass man den Eindruck hatte, er sei auf irgendetwas wütend. In Wirtshäusern lauerte er geradezu darauf, dass ihm jemand den Respekt verweigerte. Dann schlug er unvermittelt zu und begann eine wüste Rauferei. Firmin dagegen war mager wie ein Skelett und hatte ein auffallend schmales Gesicht mit einer fliehenden Stirn, was ihn ein bisschen dümmlich aussehen liess. Barre und Firmin zankten sich oft, hingen aber trotzdem wie Pech und Schwefel zusammen, wenn es darauf ankam. Sie erinnerten manchmal an ein Ehepaar nach der goldenen Hochzeit.
Desmorets schliesslich war der Enkel des Scharfrichters von Bordeaux und der Jüngste von allen. Da er vorzüglich rechnen und schreiben konnte, hatte ihm Charles die Buchführung über alle Einnahmen und Ausgaben im Haus anvertraut. Desmorets erstellte auch die Inventare
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