Der Henker von Paris
Gott für jeden von uns einen Plan hat, den wir erfüllen müssen? Dass es ein vorbestimmtes Schicksal gibt und Flüche, die auf Menschen lasten?«
Pater Gerbillon lachte herzlich und machte dann ein ernstes Gesicht. »Charles, du kommst am frühen Morgen zu mir, um mir eine derart existentielle Frage zu stellen. Dafür brauche ich einen Krug Bordeaux. Aber es ist noch zu früh.«
»Ist diese Frage denn so schwierig zu beantworten?«
»Charles, benutz deinen gesunden Menschenverstand. Glaubst du im Ernst, dass Gott für Millionen von Menschen individuelle Pläne hat? Wenn er schon nur für uns zwei einen Plan hätte, würde das ganze Hefte füllen. Es gäbe auf der Welt zu wenig Bäume, um all diese Pläne auf Papier festzuhalten. Es gibt keinen Plan, Charles, aber es gibt das Bedürfnis der Menschen, eine grössere Bedeutung und Bestimmung zu haben als ein dümmlicher Papagei in den Wäldern Siams. Wärst du Mathematiker, Charles, würdest du an den Zufall glauben, aber wir Menschen sind keine Mathematiker. Mathematik bietet keinen Trost. Deshalb suchen wir nach göttlichen Zusammenhängen. Wenn einem armen Tropf dreimal die Ehefrau stirbt, glauben wir, eine Struktur in seinem Schicksal zu erkennen. Wir nennen es Fluch. Aber es ist nichts dahinter, Charles. Kein Gott, kein Plan, kein Ziel.«
»Und somit auch kein Fluch. Ich bestimme allein über mein Schicksal?«
»Nicht ganz, es gibt Sachzwänge, familiäre Zwänge, finanzielle Zwänge, politische Zwänge. Aber der Mensch hat die Wahl. Wenn er nicht daran glaubt, hat er keine Wahl.«
Charles schwieg. Nach einer Weile sagte er: »Ich würde mich gerne mit der jungen Frau aus Siam unterhalten. Sie heisst Dan-Mali.«
Pater Gerbillon zog die Augenbrauen hoch. »Oh, das lässt sich einrichten, aber im Augenblick betet sie in der Kapelle. Trotzdem werden wir sie nicht von ihrem Buddha erlösen können. Sie hält unseren Christus für eine weitere Erscheinung Buddhas. Ich kann sie durchaus verstehen. Buddha ist die bessere Geschichte. Buddha ist tolerant. Buddhisten können sich der Liebe hingeben, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Wir hingegen, wir starren ständig auf das Jesuskreuz über dem knarrenden Bett und kriegen keinen mehr hoch.«
Charles starrte ihn ungläubig an.
»Ich bedaure, wenn ich dich schockiert habe, Charles, aber das Reisen in fremde Kontinente hilft dir, dein bisheriges Weltbild zu relativieren. Wenn du das Königreich Siam gesehen hast, siehst du alles mit anderen Augen.«
»Wann kann ich mit Dan-Mali reden?«, insistierte Charles. Das Gerede des Paters interessierte ihn jetzt nicht.
»Das wird schwierig. Ihre Französischkenntnisse sind noch sehr bescheiden, und sie kehrt mit der nächsten Expedition nach Siam zurück. Aber sie kommt wieder. Sie liebt Paris, und ich mag die junge Frau. Ich hätte sie gerne in unserem Kloster. Sie kocht wunderbar. Lass uns einfach in Kontakt bleiben, Charles. Eines Tages wirst du Dan-Mali wiedersehen.«
»Ich dachte, ich könnte sie gleich sehen.«
»Das ist keine gute Idee«, sagte Pater Gerbillon.
Damit war die Angelegenheit für Charles endgültig erledigt. Im Nachhinein war es ihm peinlich. Wahrscheinlich bedeutete er dieser jungen Frau nichts. Er hatte sich alles eingebildet. Wünsche, Hoffnungen, Träume, er schämte sich für seine Naivität. Um zu vergessen, wollte er sich fortan jenen Leuten zuwenden, die ihm applaudierten. In dieser Zeit gab es keine spektakulären Hinrichtungen, und sie dauerten nie lange, da Charles die Länge des Seils stets richtig berechnet hatte. Kleinkriminelle – Diebe, die aus Hunger und Verzweiflung stahlen, ein paar Eier auf dem Markt, ein Brot oder einen Apfel – wurden mit dem glühenden Eisen gebrandmarkt. Nach jeder Vorstellung verneigte sich Charles-Henri Sanson, der Henker von Paris, vor seinem Publikum. Immer mehr genoss er die Bewunderung von Leuten, die ihm eigentlich nichts bedeuteten. Man kann sich gegen vieles schützen im Leben, aber selten gegen Lob. Gegen Lob ist kaum jemand immun. Und Charles genoss die Bewunderung aus Trotz. Wenn Dan-Mali ihn wegen seines Berufes ablehnte, dann wollte er erst recht ein grosser Henker werden. Er wollte sich nicht länger verstecken und sein Amt verleugnen. Ja, er war Henker, der Henker von Paris. Und verdiente recht gut. Wenn jemand in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen ist und ein Leben lang sehr bescheiden gelebt hat, ist dies ein besonderes Gefühl. Er wusste, dass Leute wie Antoine dies nie
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