Der Herr Der Drachen: Roman
Dorf.
Nein, dachte Shaan. Sie schlang ihre Arme um sich, als müsse sie den Schmerz in ihrem Inneren daran hindern, sie zu zerreißen. Pass auf dich auf, gab sie Jared leise mit auf den Weg, während sie darauf lauschte, wie das Geräusch seiner Schritte leiser wurde.
Da sie wusste, dass Azoth dann mit Alterin und Anyu beschäftigt sein würde, wartete sie bis zum Sonnenuntergang, um ihren Plan auszuführen. In letzter Zeit hatte er sie weniger streng im Auge behalten. Es schien gleichgültig, wenn sie vor dem Abendessen noch zum Fluss hinunterging. Immer wieder hatte sie es in den vergangenen Tagen getan. Jedes Mal war sie bei Einbruch der Dunkelheit zurückgekommen. Auch heute hatte sie sich wie gewohnt auf den Weg gemacht - nur diesmal würde es keine Wiederkehr geben.
Als Alterin und Anyu die Leiter zur Hütte emporstiegen, lief sie bereits über das weiche Gras zum Fluss. Ihr Herz pochte laut, als
sie gemächlich durch einen Hain kleiner Palmen zu einem kaum erkennbaren Pfad schlenderte, bis sie außer Sicht des Baumhauses war. Erst als sie sicher war, nicht mehr gesehen zu werden, beschleunigte sie ihr Tempo und folgte dem Pfad, der sich an den Ufern des Flusses entlangschlängelte, dessen braune Fluten hinter Bäumen und verknoteten Schlingpflanzen verborgen waren.
Nach einem kurzen Weg in diese Richtung hielt sie an, um das kleine Paket mit Proviant und Wasserflaschen hervorzuholen, das sie in dem Baum verborgen hatte. Viel war es nicht, aber immerhin war es ihr gelungen, Kleidung zum Wechseln aus Alterins Hütte zu stehlen. Nachdem sie ihr zerschlissenes Kleid abgelegt hatte, schlüpfte sie in die kurze, einfache Tunika aus einem weichen, braunen Material. Sie reichte bis zur Mitte ihrer Oberschenkel und wurde von einem Lederstreifen an der Hüfte zusammengehalten. Kurz fühlte sie sich schuldbewusst wegen des Diebstahls, als sie den Lederstreifen festzurrte. Aber, so überlegte sie, es war besser, Alterin verlor ein paar Kleidungsstücke als ihr Leben. Schnell verbarg sie die Reste ihres Kleides unter Pflanzengestrüpp, dann folgte sie dem Pfad weiter.
Er führte direkt in den dichteren Dschungel. Hier war die Luft heiß und schwül, und das Atmen fiel ihr schwer. Bäume, wie sie Shaan noch nie gesehen hatte, ragten über ihr empor. Einige der Baumstämme waren so breit, wie Jared groß war, und ihre langen, verdrehten Wurzeln ragten schon über dem Boden aus dem Stamm, bevor sie in der schwarzen, feuchten Erde verschwanden. Schlanke, bleiche Schösslinge wuchsen zwischen ihnen, und verdrehte Schlingpflanzen schlängelten sich über den Boden, der dick mit verrottenden Blättern bedeckt war. Überall um sie herum erfüllte unsichtbares Leben den Dschungel, dessen Boden die Strahlen der Sonne nur gedämpft beleuchteten. Schnell klebte ihre Tunika vor Schweiß am Rücken. Ihr Gesicht juckte, und kleine Insekten umschwirrten unablässig jeden Fleck entblößter Haut.
Das kleinste Geräusch ließ sie zusammenzucken. Immer wieder erwartete sie, Azoths Hand auf ihrem Arm zu fühlen und seine tiefe Stimme zu hören. Doch sie versuchte, ihn aus ihren Gedanken
herauszuhalten, und alles blieb ruhig. Sie brauchte nur einfach weiter geradeaus zu gehen.
Nach einer Weile setzte Regen ein. Der Boden verwandelte sich in einen schlammigen Morast, und sie war gezwungen, ihre Sandalen auszuziehen. Ohne sie ließ es sich einfacher vorankommen. Es war schon fast dunkel, als das Schlagen schwerer Flügel über ihr vorbeizog. Für einen Moment erstarrte Shaan, dann glitt sie unter die breiten Blätter einer Palme und presste sich in den Schlamm. Sie wagte kaum zu atmen. Ob der Drache sie mit seinem Bewusstsein ausfindig machen konnte? Doch selbst wenn es wirklich Nuathin gewesen war, so fand er sie nicht. Das Geräusch der Schwingen wurde leiser, und nach einer Weile zwang Shaan sich zum Weitergehen.
Die Angst nagte an ihr. Es regnete immer weiter, und als die Sonne unterging, wurde das wenige verbleibende Licht von Schatten verdrängt. Überzeugt davon, in der richtigen Richtung unterwegs zu sein, ertastete Shaan sich stolpernd ihren Weg durch die Finsternis. Sie musste nur immer weiter nach Westen, dann würde sie ihren Weg nach Hause finden.
Als der Pfad wieder zum Fluss zurückführte, folgte Shaan ihm erschöpft und trat schließlich zutiefst erleichtert unter den Bäumen hervor. Endlich konnte sie über sich wieder den Himmel erkennen. Obwohl er von grauen Wolken verhangen war, die rasch dunkler wurden,
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