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Der Herr Der Drachen: Roman

Titel: Der Herr Der Drachen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lara Morgan
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unerbittlich ging es weiter. Jeder Schritt, mit dem sie hinterherhinkte, fühlte sich an, als stäche ihr jemand mit dem Messer ins Bein.
    Stundenlang schien es so weiterzugehen. Azoth schwieg. Ihr gequälter Atem und das langsame Schlagen der Flügel Nuathins, der ihnen unsichtbar über dem Baumdach folgte, waren die einzigen Geräusche. Seltsame Gedanken schlichen sich in ihr Bewusstsein, und sie begann aus den Augenwinkeln Dinge zu sehen. Einmal war sie sich sicher, Tuon stände hinter einem Baum und starre sie an. Aber es war zu dunkel, um die Bäume zu sehen, zu dunkel, um überhaupt etwas zu erkennen, und sie wusste, dass Tuon tot war. Jeder, der ihr half, starb. Es gab nichts mehr als Schatten und Dunkelheit, und sie, die immer weiter und weiter stolperte. Auf einmal verschwand die Erde unter ihr. Sie trat ins Nichts und stürzte hinab. Schwach, von weit her, hörte sie Azoths Fluch, ein plötzlicher Lichtschein wurde in einem Auge reflektiert, dann nichts mehr.
     
    Als sie erwachte, fand sie sich auf Azoths Schulter wieder. Ihr Kopf baumelte haltlos hin und her, während er voranschritt. Es war Tag. Da ihr rechtes Auge zugeschwollen war, konnte sie nur mit einem Auge richtig sehen. Die ganze rechte Seite ihres Gesichts fühlte sich aufgequollen und taub an. Ihr Mund war trocken, und sie war schwach vor Hunger. Mühsam stützte sie ihre Hände gegen Azoths Rücken und versuchte sich aufzurichten,
damit ihr Kopf nicht mehr gegen seinen Rücken schlug. Die Haut auf ihrer verbrannten Hand war wund und löste sich bereits, doch sie empfand keinen Schmerz.
    »Halt«, rief sie schwach. Wenn er ihren leisen Ruf überhaupt gehört hatte, ignorierte er ihn. Also presste sie ihre Bauchmuskeln gegen seine harte Schulter und versuchte, ihren Kopf aufrechtzuhalten. Schnell schmerzten ihr Hals und ihr Rücken durch die Belastung. Sie begann, mit den Händen gegen seinen Rücken zu trommeln.
    Endlich hielt er an. Als ihre Füße den Boden berührten, hätte sie sich beinahe übergeben. Schmerzhaft schoss das Blut wieder in ihre Gliedmaßen zurück. Ihr war schwindlig, und sie schwankte unsicher hin und her. Er machte keine Anstalten, ihr zu helfen, also stützte sie ihre Hände auf die Knie, sog die Luft ein und sah sich um. Sie waren im tiefen Dschungel angekommen. Auf dem Boden gab es jetzt viel weniger Pflanzen, und die Bäume hatten harte, schwarze Stämme, die sich hoch über ihnen zu einem dichten Baldachin verwoben, der den Himmel ausblendete.
    Als Azoth ihr eine Wasserflasche reichte, sah sie zu ihm empor. Sie trank langsam und behielt ihn mit ihrem unversehrten Auge im Blick. Sah er nicht ein wenig ermüdet aus? Ein dünner Film aus Schweiß bedeckte seine Stirn. Die Hände in die Hüften gestemmt, sah er ihr beim Trinken zu; die Schultern eine Winzigkeit vornüber gebeugt, den Kopf ein wenig gesenkt und das Kinn nicht mehr ganz so stolz erhoben.
    Düster und wachsam musterte er sie von Kopf bis Fuß. »Kannst du gehen?«
    Sie nickte und gab ihm das Wasser zurück. Es war noch immer Kraft in seinem Blick.
    »Dann komm. Es ist nicht mehr weit.« Diesmal machte er sich nicht die Mühe, ihren Arm zu ergreifen. Er drehte sich einfach um und ging los. Offenbar dachte er, dass er sie gebrochen hatte.
    Einen Moment lang sah sie ihm hinterher, als er sich entfernte. Dann folgte sie langsam humpelnd, während dumpfe Schmerzen bei jedem Schritt durch ihre Beine fuhren. Sie dachte an Balkis,
wie er die Hand nach ihr ausgestreckt hatte, als Azoth sie weggebracht hatte. Die Erinnerung rief eine tiefe Traurigkeit in ihrem Herzen wach, wie ein kaum verheilter Schnitt, der wieder aufbrach: eine weitere Wunde.
    Sie überwanden ein Dickicht aus Schlingpflanzen und kamen erneut am Fluss heraus. Es war der Nebenarm. Anscheinend waren sie in einem Bogen umgedreht, vorbei an dem Pfad, der in der Nähe der Brücke durch den Dschungel schnitt. Hier war der Fluss schmaler, und das Wasser floss langsamer dahin. Als sie sah, was sich am gegenüberliegenden Ufer befand, begannen ihre Beine zu zittern: zerfallene Steinmauern, die Überreste eines Tores und dahinter die Reste einer steinernen Straße. Alles war von Schlingpflanzen überwuchert. Die Stadt aus ihren Träumen. Furcht verschloss ihr die Kehle.
    Azoth hatte angehalten. Er starrte sie an, die Augen schmal und den Mund zu einer harten Linie zusammengepresst. Plötzlich sah er viel älter aus, wie ein alter Mann, der sich unter einer jugendlichen Hülle verbarg: eine alterslose Haut,

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