Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
und nach einer Weile schritten sie unbefangener aus, ohne einen Sturz oder Fehltritt befürchten zu müssen. Des Gesichtssinns beraubt, merkte Frodo, wie sein Gehör und die anderen Sinne sich schärften. Er konnte die Bäume riechen und das niedergetretene Gras. Viele verschiedenen Töne aus dem Rascheln des Laubes an den Bäumen, dem Murmeln des Flusses zu seiner Rechten und den dünnen, hellen Stimmen der Vögel am Himmel hörte er heraus. Er spürte die Sonne auf Gesicht und Händen, wenn sie über eine Lichtung gingen.
Gleich, als er den Fuß ans andere Ufer des Silberlaufs setzte, hatte ihn ein seltsames Gefühl überkommen, das sich vertiefte, als er weiter in den Naith hineinging: Es war ihm, als sei er über eine Brücke zwischen den Zeiten in einen Winkel der Ältesten Tage eingetreten und gehe nun durch eine Welt, die nicht mehr bestand. In Bruchtal lebte noch die Erinnerung an die alten Zeiten; in Lórien dauerten die alten Zeiten selbst in der Gegenwart fort. Böses hatte man dort gesehen und gehört, und Leid hatte man erfahren; die Elben fürchteten die Welt draußen und misstrauten ihr; Wölfe heulten um des Waldes Grenzen, doch auf dem Lande Lórien lag kein Schatten.
Den ganzen Tag marschierten sie, bis sie die Abendkühle spürten und den frühen Nachtwind durchs Laub säuseln hörten. Dann ruhten sie und schliefen unbesorgt auf dem Boden; denn ihre Führer gestatteten nicht, dass sie die Augenbinden abnahmen, und ohne zu sehen, konnten sie nicht klettern. Am Morgen ging es weiter, ohne große Eile. Mittags machten sie Halt, und Frodo merkte, dass sie aus dem Wald in den Sonnenschein hinausgekommen waren. Plötzlich hörte er ringsum viele Stimmen.
Ein Heer der Elben war in aller Stille herangekommen. Sie zogen im Eilmarsch zu den Nordgrenzen, um gegen jeden Angriff aus Moria auf der Hut zu sein; und sie brachten Nachrichten, von denen Haldir manche an die Gefährten weitergab. Den landverwüstendenOrks war ein Hinterhalt gelegt worden, in dem fast alle vernichtet wurden; die Überlebenden flohen nach Westen zum Gebirge hin und wurden verfolgt. Auch war eine fremdartige Kreatur gesichtet worden, die gebückt dahinrannte, die Hände nah am Boden, wie ein Tier und doch nicht von tierischer Gestalt. Sie hatte sich nicht einfangen lassen, und erschießen wollte man sie nicht, weil man nicht wusste, ob sie gut oder böse sei. Sie war den Silberlauf abwärts nach Süden verschwunden.
»Außerdem«, sagte Haldir, »überbringt man mir eine Botschaft vom Herrn und der Herrin der Galadhrim. Ihr seid alle als freie Gäste zu behandeln, auch der Zwerg Gimli. Anscheinend weiß die Herrin, wer und was jeder Einzelne von euch ist. Vielleicht sind Neuigkeiten aus Bruchtal eingetroffen.«
Als Erstem nahm er Gimli die Augenbinde ab. »Ich bitte dich um Verzeihung«, sagte er mit einer tiefen Verbeugung. »Mögest du uns nun freundlichen Auges ansehen! Schau dich um und sei froh, denn als erster Zwerg seit Durins Tag wirst du die Bäume im Naith von Lórien erblicken!«
Als auch Frodo die Binde abgenommen war, hielt er den Atem an. Sie standen auf einer freien Fläche. Links erhob sich ein großer Hügel, mit kurzem Gras bewachsen, grün wie der Lenz in den Ältesten Tagen. Ganz oben, wie eine Doppelkrone, standen zwei Kreise von Bäumen: die äußeren mit schneeweißer Rinde, zur Zeit unbelaubt, aber herrlich in ihrer wohlgeformten Nacktheit; im inneren Kreis Mallornbäume von hohem Wuchs, noch mit fahlem Gold umkleidet. Zwischen den oberen Ästen eines turmhohen Baumes, der in der Mitte der beiden Kreise stand, schimmerte ein weißes Flett hervor. Zu Füßen der Bäume und überall auf den Hängen des Hügels war das Gras mit kleinen goldgelben, sternförmigen Blumen übersät. Zwischen ihnen, auf schlankeren Stängeln wippend, standen noch andere Blumen, weiß oder vom zartesten Grün: wie ein bunter Dunstschleier lagen sie über der kräftigen Farbe des Grases. Über allem hing der blaue Himmel, und die Nachmittagssonne schien auf den Hügel und warf lange grüne Schatten unter die Bäume.
»Sehet da! Ihr seid am Cerin Amroth«, sagte Haldir. »Dies ist des alten Königreiches Herz, so wie es einst war, und hier ist Amroths Hügel, wo in glücklicheren Tagen sein hohes Haus gezimmert ward. Stets blühen hier die Winterblumen im nie welkenden Grase, die gelbe Elanor und die blasse Niphredil. Hier bleiben wir ein Weilchen und kommen dann gegen Abend in die Stadt der Galadhrim.«
Die anderen ließen sich
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