Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
könnte. Leiten konnte mich nur das eigene Gefühl dafür, was reizvoll oder bewegend ist, und nach Ansicht vieler hat es mich unvermeidlich oft fehlgeleitet. Manche, die das Buch gelesen oder jedenfalls rezensiert haben, fanden es langweilig, abstrus oder verachtenswert, und ich habe keinen Grund, mich zu beklagen, denn ich denke ähnlich über ihre Werke oder über die Art Bücher, die sie offenbar vorziehen. Aber auch aus der Sicht vieler Leser, denen die Geschichte gefallen hat, gibt es etliches zu bemängeln. Es ist wohl in einer langen Geschichte nicht möglich, es jedermann an allen Stellen recht zu machen oder jedermann an den gleichen Stellen zu missfallen; denn wie ich aus den Zuschriften der Leser ersehe, werden dieselben Passagen oder Kapitel, die für manche ein Ärgernis sind, von anderen besonders beifällig aufgenommen. Als kritischster von allen Lesern finde ich selbst darin nun vielerlei Mängel, größere und kleinere, doch weil ich zum Glück nicht verpflichtet bin, das Buch zu rezensieren, noch es neu zu schreiben, will ich sie mit Stillschweigen übergehen – alle bis auf einen, den auch andere bemerkt haben: das Buch ist zu kurz.
Was die tiefere Bedeutung oder »Botschaft« des Buches angeht, so hat es nach Absicht des Autors keine. Es ist weder allegorisch, noch hat es irgendeinen aktuellen Bezug. Als die Geschichte wuchs, schlug sie Wurzeln (in die Vergangenheit) und verzweigte sich in unerwartete Richtungen, aber ihr Hauptthema stand von Anfang an fest, weil der Ring nun einmal das Bindeglied zum Hobbit sein musste. Das zentrale Kapitel »Der Schatten der Vergangenheit« ist eines der ältesten Stücke der Erzählung. Es wurde geschrieben, als aus den Vorzeichen für 1939 noch längst nicht die Gefahr einer unabwendbaren Katastrophe zu erkennen war; und von diesem Punkt aus hätte die Geschichte im wesentlichen den gleichen Fortgang genommen, auch wenn das Unglück abgewendet worden wäre. Ihre Quellen sind Dinge, die mich seit langem beschäftigten und zum Teil auch schon niedergeschrieben waren, und der Krieg, der 1939 begann, und seine Folgen änderten an ihr wenig oder nichts.
Der wirkliche Krieg hat weder in seinem Verlauf noch in seinem Ausgang eine Ähnlichkeit mit dem Krieg der Sage. Hätte er als Vorbild oder Leitfaden gedient, so hätte man sich des Rings sicherlich bemächtigt und ihn gegen Sauron verwendet; und Sauron wäre nicht vernichtet worden, sondern unterworfen, und Barad-dûr nicht zerstört, sondern besetzt. Saruman, wenn er schon nicht in den Besitz des Ringes gelangen konnte, hätte in den Wirren und Verrätereien jener Zeit Gelegenheit gefunden, sich in Mordor die fehlenden Zwischenglieder seiner eigenen Ringforschung zu verschaffen; und bald hätte er sich selbst einen großen Ring geschmiedet, um den selbsternannten Beherrscher von Mittelerde damit herauszufordern. Den Hobbits wäre in einem solchen Konflikt von beiden Seiten nur Hass und Verachtung begegnet; und nicht mal als Sklaven hätten sie lange überlebt.
Denkbar wären auch Deutungen gemäß den Vorlieben oder Ansichten derjenigen, die auf allegorische oder aktuelle Bezüge Wert legen. Doch die Allegorie in allen ihren Formen verabscheue ich von Herzen, und zwar schon immer, seit ich alt und argwöhnisch genug bin, ihr Vorhandensein zu bemerken. Geschichte, ob wahr oder erfunden, mit ihrer vielfältigen Anwendbarkeit im Denken und Erleben des Lesers ist mir viel lieber. Ich glaube, dass »Anwendbarkeit« mit »Allegorie« oft verwechselt wird; doch liegt die eine im freien Ermessen des Lesers, während die andere von der Absicht des Autors beherrscht wird.
Der Autor kann natürlich von der eigenen Erfahrung nicht völlig unberührt bleiben, aber der Vorgang, in dem der Keim einer Geschichte aus dem Boden der Erfahrung seine Nahrung zieht, ist äußerst verwickelt, und Versuche, ihn zu beschreiben, beruhen bestenfalls auf Mutmaßungen anhand unzureichender und mehrdeutiger Befunde. Falsch, obgleich naturgemäß verlockend, ist auch die Annahme, wenn das Leben eines Autors und das eines Kritikers sich überschneiden, müssten die Ereignisse und geistigen Bewegungen ihrer Zeit auf beide den stärksten Einfluss ausgeübt haben. Gewiss, wie bedrückend ein Krieg ist, kann nur der ganz empfinden, auf den dieser Schatten einmal gefallen ist; doch im Laufe der Jahre scheint man nun oft zu vergessen, dass es ebenso schrecklich war, als junger Mensch 1914 da hineinzugeraten wie 1939 und in den folgenden Jahren.
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