Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
ins duftende Gras fallen, aber Frodo blieb noch eine Weile verwundert stehen. Ihm war, als habe er durch ein hohes Fenster in eine entschwundene Welt geblickt und sei nun über die Schwelle getreten. Ein Licht lag auf dieser Welt, für das seine Sprache keinen Namen hatte. Alles, was er sah, war wohlgeformt, aber die Formen schienen klar umrissen, als wären sie eben erst, als man ihm die Binde von den Augen nahm, ersonnen und gezeichnet worden, und zugleich uralt, als wären sie schon immer da gewesen. Er sah nur Farben, die er kannte: Gold und Weiß, Blau und Grün, aber sie waren so frisch und eindringlich, als sähe er sie in diesem Augenblick zum ersten Mal und müsste ihnen neue und ihrer würdige Namen verleihen. Hier konnte selbst im Winter niemand dem Sommer oder Frühling nachtrauern. Nichts von all dem, was hier wuchs, war fehlerhaft, krank oder missgebildet. Am Lande Lórien war kein Makel.
Er wandte sich zur Seite und sah, dass Sam neben ihm stand, der mit verwirrter Miene umherblickte und sich die Augen rieb, wie um sich zu vergewissern, dass er wach sei. »Die Sonne scheint, und es ist heller Tag, ganz normal«, sagte er. »Und ich dachte immer, die Elben hätten es nur mit Mond und Sternen! Aber das hier ist ja noch elbischer als alles, wovon ich je gehört habe. Ich komme mir vor, versteh mich recht, als ob ich jemand in einem Lied wäre.«
Haldir sah sie an; er schien in der Tat recht zu verstehen, was Sam meinte, sowohl dem Sinn wie den Worten gemäß. Er lächelte. »Du spürst die Macht der Herrin«, sagte er. »Würdet ihr gern mit mir den Cerin Amroth besteigen?«
Sie folgten ihm, als er leichtfüßig die grasigen Hänge hinaufschritt.Frodo, obwohl er hier nun ging und atmete, zwischen lebendigen Blättern und Blumen, die derselbe kühle Wind wiegte, der ihm das Gesicht fächelte, hatte das Gefühl, in einem zeitlosen Land zu sein, das nicht vergehen, sich verändern oder in Vergessenheit fallen könnte. Wäre er wieder fort und in die Welt draußen zurückgekehrt, so bliebe hier doch für immer Frodo, der Reisende aus dem Auenland, und schritt durchs Gras zwischen den Elanor und Niphredil im schönen Lothlórien.
Sie traten in den Kreis der weißen Bäume. Der Südwind wehte über Cerin Amroth und säuselte in den Zweigen. Frodo blieb stehen. Von fern hörte er große Meere an Strände branden, die längst weggespült waren, und hörte Seevögel schreien, deren Art von der Erde verschwunden war.
Haldir war weitergegangen und stieg nun zu dem hohen Flett hinauf. Frodo, der sich anschickte, ihm zu folgen, legte eine Hand an den Baumstamm neben der Leiter: Nie zuvor war ihm so plötzlich und so deutlich bewusst geworden, wie sich das Gewebe und die Oberfläche einer Baumhaut anfühlten und wie viel Leben sich darunter verbarg. Er spürte etwas von Freude in dem Holz und in der Hand, die es berührte: nicht das Wohlgefallen des Försters oder Zimmermanns, sondern die Lebensfreude des Baumes selbst.
Als er schließlich auf die luftige Plattform hinaustrat, nahm ihn Haldir bei der Hand und führte ihn zum Ausblick nach Süden. »Schau dorthin zuerst!«, sagte er.
Immer noch in einiger Entfernung sah Frodo einen Hügel, mit vielen mächtigen Bäumen bestanden; oder war es vielmehr eine Stadt von grünen Türmen? Er konnte es nicht sagen. Von dort, so schien ihm, strahlten die Macht und das Licht aus, die das ganze Land in der Schwebe hielten. Auf einmal sehnte er sich danach, wie ein Vogel zu der grünen Stadt hinfliegen zu können. Dann schaute er nach Osten und sah einen blass schimmernden Streifen, zu dem hin alles Land abfiel, den Anduin, den großen Strom. Er hob den Blick über den Fluss hinweg, und alles Licht erlosch, und er war wieder in der Welt, die er kannte. Jenseits des Stroms schien dasLand flach und leer zu sein, gestaltlos und verschwommen, bis es in der Ferne wieder anstieg, wie eine Mauer, dumpf und düster. Die Sonne, die auf Lórien schien, hatte nicht die Kraft, den Schatten auf jener fernen Höhe zu lichten.
»Dort liegt die Festung des südlichen Düsterwalds«, sagte Haldir. »Ein Wald von dunklen Tannen umgibt sie, wo die Bäume miteinander ringen und wo ihre Zweige verfaulen oder verdorren. Inmitten des Waldes steht auf einer felsigen Anhöhe Dol Guldur, wo der Feind, als er sich verborgen hielt, lange seinen Sitz hatte. Wir fürchten, dass die Burg wieder bewohnt und siebenmal so stark gerüstet ist wie zuvor. Oft hängt in letzter Zeit eine schwarze Wolke
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