Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
Fragen. Seine Hände lagen auf den Knien, und die Augen hielt er geschlossen. Zuletzt, als Aragorn von Boromirs Ende und seiner letzten Fahrt auf dem Großen Strom berichtete, seufzte der Alte.
»Nicht alles, was du weißt oder ahnst, hast du mir gesagt, Freund Aragorn«, sagte er. »Der arme Boromir! Ich konnte nicht sehen, was ihm zugestoßen ist. Es war eine schwere Prüfung für einen Menschen wie ihn: einen Krieger, einen Herrn seines Volkes. Galadriel hat mir gesagt, dass er in Gefahr sei. Aber am Ende ist er ihr entkommen. Ich bin froh. Also war es nicht vergebens, schon um Boromirs willen, dass wir die beiden jungen Hobbits mitgenommen haben. Sie sind zum Fangorn gebracht worden, und ihre Ankunft hier hat gewirkt wie das kleine Steinchen, dessen Fall in den Bergen eine Lawine auslöst. Während wir hier reden, höre ich schon das erste Grollen. Saruman muss achtgeben,dass er nicht fern von seiner Burg erwischt wird, wenn die Dämme brechen.«
»In einem hast du dich nicht verändert, lieber Freund«, sagte Aragorn: »Noch immer sprichst du in Rätseln.«
»Wie? In Rätseln?«, sagte Gandalf. »Nein, ich habe laut mit mir selbst gesprochen. Eine Gewohnheit der Alten: Sie sprechen immer zu den Klügsten unter den Anwesenden; die langen Erklärungen, die man den Jüngeren geben muss, sind so ermüdend.« Er lachte, aber es klang nun freundlich und warm wie ein Sonnenstrahl.
»Ich bin nicht mehr jung«, sagte Aragorn, »nicht mal nach Maßstäben der Menschen aus den ältesten Geschlechtern. Könntest du mir deine Gedanken nicht etwas deutlicher kundtun?«
»Was soll ich also sagen?«, sagte Gandalf und dachte einen Moment still nach. »In aller Kürze, um dir möglichst deutlich zu machen, wie ich die Dinge sehe, die Lage ist so: Der Feind weiß natürlich schon lange, dass der Ring unterwegs ist und dass ein Hobbit ihn trägt. Er kennt nun die Zahl der Gefährten, mit denen wir von Bruchtal aufgebrochen sind, und weiß, welcher Art jeder von uns ist. Aber unsere Absicht hat er noch nicht klar erkannt. Er nimmt an, dass wir alle nach Minas Tirith gehen, denn das täte er an unserer Stelle. Und nach allem, was er weiß, wäre dies ein schwerer Schlag für ihn. Ja, er ist in höchster Besorgnis, denn er weiß nicht, welcher Mächtige plötzlich auftreten, den Ring gegen ihn gebrauchen und ihn bekriegen könnte, mit der Absicht, ihn niederzuwerfen und seinen Platz einzunehmen. Dass wir die Absicht haben könnten, ihn niederzuwerfen und niemanden an seinen Platz zu setzen, ist ein Gedanke, der nicht in seinen Kopf geht. Und dass wir versuchen könnten, den Ring zu vernichten, fällt ihm in seinen bösesten Träumen nicht ein. Woran ihr sehen werdet, welch ein Glück wir haben und welche Hoffnung. Denn da er Krieg erwartet, hat er den Krieg gleich selbst entfesselt, in dem Glauben, er habe keine Zeit zu verlieren; denn wer den ersten Schlag führt, braucht vielleicht, wenn der Schlag hart genug ist, keinen zweiten mehr zu führen. Also setzt er nun die Streitkräfte, die er seit langem aufstellt,früher als beabsichtigt in Marsch. Der weise Narr! Denn würde er all seine Macht für die Bewachung von Mordor, sodass niemand eindringen könnte, und all seine Schläue für die Jagd nach dem Ring gebrauchen, so schwände für uns wohl jede Hoffnung: Weder der Ring noch sein Träger könnten ihm lange entgehen. Aber nun schweift sein Auge in die Ferne, und er sieht nicht, was vor seiner Nase geschieht. Meistens blickt er jetzt auf Minas Tirith, und bald wird er mit aller Macht dagegen anstürmen.
Denn er weiß schon, dass seine Abgesandten, die dem Ringträger und seinen Gefährten auflauern sollten, abermals versagt haben. Den Ring haben sie nicht gefunden, und sie haben auch keine Hobbits als Geiseln herbeischaffen können. Wäre ihnen wenigstens dies gelungen, wäre es ein schwerer, vielleicht vernichtender Schlag für uns gewesen. Aber trüben wir uns den Sinn nicht mit der Vorstellung, auf welche Probe die Treue und Redlichkeit der Hobbits im Dunklen Turm gestellt worden wäre. Denn es ist dem Feind nicht gelungen – bisher. Saruman sei Dank!«
»Ist denn Saruman kein Verräter?«, sagte Gimli.
»Doch«, sagte Gandalf, »sogar ein doppelter. Und ist es nicht seltsam? Nichts, das wir in letzter Zeit erleiden mussten, hat uns schmerzlicher getroffen als Isengards Verrat. Selbst als Fürst und Kriegsherr ist Saruman inzwischen sehr stark. Er bedroht die Menschen von Rohan, sodass sie Minas Tirith nicht zu Hilfe
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