Der Herr der Ringe
die nach dem heftigen Regen nass und schlüpfrig waren. Das Gelände fiel noch immer stark ab. Sie waren noch nicht weit gegangen, als sie zu einer großen Spalte kamen, die plötzlich schwarz zu ihren Füßen gähnte. Sie war nicht breit, aber doch zu breit, um sie in dem düsteren Licht zu überspringen. Sie glaubten Wasser in der Tiefe gurgeln zu hören. Die Spalte zog sich links von ihnen nach Norden hin, zurück zu den Bergen, und versperrte ihnen also den Weg in dieser Richtung, jedenfalls solange es dunkel war.
»Wir sollten es lieber wieder weiter südlich an der Felswand entlang versuchen, glaube ich«, sagte Sam. »Vielleicht finden wir da irgendein Versteck oder sogar eine Höhle oder so was.«
»Könnte sein«, sagte Frodo. »Ich bin müde und glaube nicht, dass ich heute Nacht noch viel länger zwischen Steinen herumklettern kann – obwohl ich mich über die Verzögerung ärgere. Ich wünschte, wir hätten einen klaren Weg vor uns. Dann würde ich weitergehen, bis meine Beine nicht mehr mitmachen.«
Sie fanden das Gehen an dem zerklüfteten Fuß des Emyn Muil nicht einfacher. Und Sam fand auch keinerlei Versteck oder Mulde, die Schutz geboten hätten: nur kahle, steinige Hänge, über denen sich die Felswand auftürmte und immer höher und steiler wurde, je weiter sie zurückgingen. Erschöpft warfen sie sich einfach auf den Boden auf der windgeschützten Seite eines Findlings nicht weit vom Fuß der Felswand. Dort saßen sie eine Weile traurig zusammengekauert in der kalten, steinigen Nacht. Der Mond stand jetzt hoch am Himmel und war klar. Sein schwaches weißes Licht beleuchtete die Vorderseiten der Steine und die kalte, drohende Felswand und verwandelte die ganze dräuende Dunkelheit in kühles, blasses Grau, von schwarzen Schatten durchschnitten.
»Nun«, sagte Frodo, stand auf und zog seinen Mantel fester um sich. »Du schläfst jetzt ein bisschen, Sam, und nimmst meine Decke. Ich gehe eine Weile als Posten auf und ab.« Plötzlich erstarrte er, bückte sich und packteSam am Arm. »Was ist das?«, flüsterte er. »Schau, dort drüben auf der Felswand!«
Sam blickte hinüber und pfiff durch die Zähne. »Ssss!«, sagte er. »Da haben wir’s. Das ist dieser Gollum! Schlangen und Nattern! Und wenn man sich vorstellt, dass ich geglaubt hatte, wir verwirren ihn mit unserem bisschen Klettern! Schau dir das an! Wie eine scheußliche krabbelnde Spinne auf einer Wand.«
Auf der Vorderseite einer Berglehne, steil und fast glatt schien sie im Mondlicht zu sein, bewegte sich ein kleines schwarzes Geschöpf mit gespreizten Gliedern abwärts. Vielleicht fanden seine weichen, sich anklammernden Hände und Zehen Spalten und Stützen, die kein Hobbit je hätte sehen oder benutzen können, aber es sah aus, als ob es einfach auf klebrigen Pfoten kröche wie ein großes, beutelüsternes, insektenähnliches Tier. Und es kam mit dem Kopf zuerst herunter, als ob es seinen Weg witterte. Ab und zu hob es langsam den Kopf und drehte ihn auf seinem langen, mageren Hals bis nach hinten, und die Hobbits sahen flüchtig zwei kleine, blass leuchtende Punkte, seine Augen, die kurz zum Mond hinaufblinzelten und dann rasch wieder von den Lidern bedeckt wurden.
»Glaubst du, er kann uns sehen?«, fragte Sam.
»Ich weiß es nicht«, sagte Frodo leise. »Aber ich glaube nicht. Sogar für freundliche Augen sind diese Elbenmäntel schwer zu sehen. Selbst auf ein paar Schritt Entfernung kann ich dich im Schatten nicht sehen. Und ich habe gehört, dass er Sonne oder Mond nicht mag.«
»Warum kommt er dann aber gerade hier herunter?«, fragte Sam.
»Leise, Sam!«, sagte Frodo. »Er kann uns vielleicht riechen. Und er kann so gut hören wie Elben, glaube ich. Ich denke mir, er hat jetzt etwas gehört: unsere Stimmen wahrscheinlich. Wir haben da drüben eine Menge geschrien; und bis vor einer Minute haben wir uns viel zu laut unterhalten.«
»Na, ich habe ihn längst satt«, sagte Sam. »Für mich ist er uns einmal zu oft nachgekommen, und ich werde ein Wörtchen mit ihm reden, wenn ich kann. Ich glaube sowieso nicht, dass wir ihm entwischen könnten.« Sam zog sich seine graue Kapuze gut übers Gesicht und kroch verstohlen zur Klippe.
»Vorsichtig!«, flüsterte Frodo, der hinterherkam. »Erschrecke ihn nicht. Er ist viel gefährlicher, als er aussieht.«
Das schwarze, kriechende Geschöpf hatte jetzt drei Viertel des Wegs nach unten geschafft und war vielleicht fünfzig Fuß oder weniger über dem Fuß der Klippe.
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