Der Herr der Tränen: Roman (German Edition)
Gedanke, dass er diesen ganzen Haufen finanzierte, machte ihm zu schaffen. Er erinnerte ihn zu sehr an eine Zeit, da er selbst Truppen ausgehoben hatte, eine Zeit, die er tief in sich vergraben hatte.
Er war fast vierzig gewesen, als Regrets gestohlene Fäden seine Struktur verändert hatten. Die Zeit davor war nebelhaft, denn er war ein gänzlich anderer Mann gewesen – ein Prinz von Ander, Sohn einer liebevollen Familie, der vielleicht ein unauffälliges Leben geführt hätte, wäre da nicht Regret gewesen. Nachdem er die Veränderung durchlitten hatte, waren alle Chancen auf dieses Leben dahin.
Es war schwer, sich an alles aus seinem jahrhundertelangen Leben zu erinnern – sich alle relevanten Erfahrungen zu vergegenwärtigen, insbesondere jene, die er bewusst vergraben hatte. Aber da jetzt Möchtegern-Soldaten mit ihm marschierten und andere Wächter durch Aorn streiften, blieb ihm keine Wahl. Er musste sich dem stellen, was und wer er wirklich war.
Karrak. Der Herr der Krähen. Eine Schreckensfigur aus den Legenden, ein Mann ohne Reue, Furcht oder Mitgefühl. Zu seiner Zeit von den freien Menschen Aorns verachtet, hatte er Zerstörung gebracht, wo immer sein Blick hinfiel, und sein eigenes Reich mit erbarmungsloser Grausamkeit regiert. Während die anderen Wächter ein wenig launenhaft wurden in dem Chaos, das sie verursacht hatten, war er immer klar und gnadenlos seinem Ziel treu geblieben, die Welt in Krieg zu stürzen. Jüngst hatte er gehört, wie hinter vorgehaltener Hand sein Name genannt und gefragt worden war, ob auch er zurückgekehrt sei, ob der Horizont sich schon bald von der Krähen-Wolke verdunkeln würde, die sein Herannahen ankündigte. Was würden die guten Leute denken, wenn sie wüssten, dass er tatsächlich an ihrer Seite marschierte?
Er besah sich die Gruppe und stellte fest, dass es ihm gleich war. Sie kannten ihn nicht. Sie wussten nicht, wie weit er sich davon entfernt hatte, Karrak zu sein.
Oder wie tief ich gefallen bin.
So oder so, er wollte unbedingt verhindern, dass Tarzi das Herz brach. Er stellte sich das Entsetzen in ihren Augen vor, den Abscheu, der sie erfüllen würde, wenn sie begriff, mit wem sie in all diesen Nächten das Lager geteilt hatte, und in all diesen verspielten, trägen Morgenstunden. Würde sie ihn verschmähen – oder akzeptieren und verstehen?
Ich bin Rostigan, sagte er sich.
Es war eine hohle Beteuerung. Rostigan war nur ein Name, den er benutzte, und das auch nur während der letzten paar Jahrzehnte. Davor hatte es andere Namen gegeben, berühmte Namen, von Kriegern, die inzwischen Geschichte waren. Wann immer er für irgendeine große Tat bekannt geworden war, hatte er schließlich verschwinden und sich selbst neu erfinden müssen, damit die Menschen nicht irgendwann fragten, warum er nicht alterte. Es war nicht schwierig, solange er eine dauerhafte Residenz vermied. Alte Krieger, so schien es, waren dazu bestimmt zu verblassen.
Er seufzte. Es wäre nicht das Schlimmste, wenn Tarzi ihn hasste. Er wusste, dass sie nicht diejenige war, nach der er suchte. Sie verdiente etwas Besseres, jemanden, der sie so sehr lieben konnte, wie sie ihn liebte. Und Tarzi war nicht sie. In all den Tagen, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er nie wieder eine wie sie gefunden.
Er hatte auf seinem Streitross gesessen, beide in malträtierter stählerner Rüstung. Seine Wachen waren bei ihm gewesen – Rohlinge alle durch die Bank, grimmig loyal, denn er belohnte diejenigen, die die Gesellschaft für gewöhnlich mied, er machte Hauptleute aus gemeinen Schlägern. Der Rest seines Heers bedurfte fortwährender Aufmerksamkeit, damit die Disziplin nicht nachließ. Manchmal übergab er Deserteure an Forger, um an ihnen ein Exempel zu statuieren, und bei der Großen Magie, es waren prächtige Exempel. Allerdings war Karrak durchaus selbst zu genug Grausamkeit fähig gewesen; außerdem hatte er über Talent verfügt, seine Soldaten glauben zu machen, dass sie auf der Seite des Rechts kämpften. Mit ein wenig Fadenwirken konnte er dafür sorgen, dass seine Worte überzeugender wirkten, als sie es realistischerweise hätten tun dürfen. Er hatte sie wie Glaubenswahrheiten dem Geist jener eingepflanzt, die sie hörten. Den Herrn der Krähen nannten sie ihn, und den Herrn der Lügen.
Tatsächlich war er gerade dabei gewesen, die Ergebnisse seiner Überzeugungskraft zu inspizieren. Ein Zug von vergitterten Wagen voll Sklaven rumpelte am Rand des Steinbruchs entlang.
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