Der Herr der Tränen: Roman (German Edition)
dem Dach des Turms niemals verändert worden wäre, niemals Regrets gestohlene Fäden geerbt hätte – sie zeigten ihm das Leben, das er verloren hatte, eine Alternative zu dem, was daraus geworden war.
Er wäre weiterhin der Prinz von Ander gewesen, hätte niemals seinen Vater und seinen Bruder um des Thrones willen ermordet. Auf einer diplomatischen Mission ins Königreich der Flachlande wäre er König Alcrane auf eine andere Weise begegnet, hätte seine Familie kennengelernt und auch seine Nichte – ein zierliches Mädchen mit Sommersprossen, das er vom ersten Moment an angehimmelt hätte. Er hätte einen Vorwand gefunden, nach der offiziellen Zusammenkunft mit ihr zu sprechen, und dann wieder am nächsten Tag, und er hätte verweilt, nachdem die Verhandlungen freundschaftlich abgeschlossen worden wären. Alcrane hätte mit Erheiterung beobachtet, dass eine Verbindung zwischen den Königshäusern bevorstand, und er hätte der herbeigesehnten Hochzeit seinen Segen gegeben.
In diesen Augenblicken, in denen er seine verlorene Vergangenheit sah, spürte Karrak etwas, das er nie gekannt hatte. Was für ein erstaunliches Phänomen es war, so für jemand anders zu empfinden, sein Wohlergehen so zu seiner Herzenssache zu machen, und zu erleben, dass der andere genauso für ihn empfand, ein solches Miteinander und eine solch beständige Freundschaft zu erfahren. Wie ihm das Herz leicht wurde, wie er schwebte … diese Sache wurde Liebe genannt, das wusste er, und war ein wunderbarer Reichtum.
Es folgte ein Schimmer der realen Vergangenheit, der gerade vergangenen Nacht. Der Wagenfahrer hatte gelacht, als er die Frau vergewaltigt hatte, gelacht, während er die Frau, die Karraks Ehefrau gewesen wäre, im Dreck vergewaltigt hatte.
Karrak kehrte in die Gegenwart zurück, als einer seiner Hauptleute ihr mit dem Handrücken ins Gesicht schlug. Der Hauptmann keuchte auf, als sich ihm Karraks Schwert knirschend in den Rücken bohrte. Im Zorn wirbelte Karrak zu dem Wagenfahrer herum, der wie eine Maus im Laternenlicht erstarrte. Er ließ das Schwert so heftig auf den Kopf des Mannes niedersausen, dass es bis in seinen Magen drang.
Mit getrübter Sicht sah er, dass seine anderen Hauptleute ängstlich wurden, einige wichen zurück, andere kämpften gegen den Drang davonzurennen an. Was tat er hier? Er presste sich eine Hand auf die Stirn und versuchte es zu verstehen – welchen Wahnsinn hatte er soeben erlebt?
»Bringt sie in die Burg«, knurrte er und deutete auf sie, ohne einen Blick zu wagen. »Unverletzt«, fügte er hinzu, und er zog sich auf sein Pferd und versuchte, dabei nicht zu zittern.
Karrak saß in seinen Gemächern oben auf Burg Ander, die Pfeife in der Hand lange erloschen. In manchen Nächten gefiel es ihm, hier in seinem Sessel zu sitzen, ins Feuer zu starren und einzunicken. Doch an diesem Abend war kein Schlaf zu finden. Nicht wenn er sie eingesperrt in einem Raum weit unter sich praktisch spüren konnte, ein leuchtender Strahl am Rand seiner Gedanken.
Sie würde ihn niemals lieben, das wusste er mit Bestimmtheit. Er hatte ihr Zuhause zerstört und ihren Vater ermordet, und er war die letzte Ursache der Gewalt, die man ihr angetan hatte. In einem anderen Leben hätte sie sich in einen anderen Karrak verliebt, einen Mann, der er nicht war und niemals sein würde.
Was kümmert es mich?, fragte er sich und drehte die Pfeife, um Asche auf die Armlehne zu klopfen. Er konnte befehlen, dass man sie zu ihm brachte, und mit ihr tun, was immer er wünschte. Er konnte mit ihr sprechen, konnte ihren Geist mit fadenumwirkten Worten einlullen, bis sie wirklich glaubte, ihn zu lieben – aber das würde in ihr nicht das gleiche Gefühl wecken, das er hegte und das ihn jetzt verfolgte. Oh, wie sehr er sich wünschte, es würde erwidert – so sehr, wie er bisher nur eine Schlacht und Macht und Herrschaft gewollt hatte. All seine Juwelen, seine Lakaien und Burgen erschienen ihm jetzt wie hohle Trophäen. Er hatte die feinsten Speisen gegessen, die feinsten Frauen in seinem Bett gehabt, hatte Könige vor sich knien sehen und um ihr Leben betteln hören … und doch war ihm trotz alledem diese eine simple Sache, diese grundlegende menschliche Erfahrung, die für alle zu haben war vom niedersten Bauern bis zum höchsten Herrn, nicht zugänglich.
Er grübelte über sein alternatives Ich nach – einen lächelnden Mann, wohlwollend und charmant. War es das, was er gewesen war? Er hatte seine Verwandlung immer als einen
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