Der Herr der Tränen
verschwunden. Die Worte, die er geschrieben hatte, wisperten durch die Luft, und sein Herz klopfte, als er sie in seiner eigenen Stimme gesprochen hörte. Er sah hinüber zu Tarzi, doch die schlief friedlich.
Angewidert warf er Buch und Feder in den Bach, obwohl das wohl kaum einen Unterschied ausmachen würde. Es waren ganz einfache Gegenstände, nichts Besonderes, nur eine Sammlung von Trophäen der Diebin. Die Fäden des Fisches waren zu Rostigan gekommen, und zwar weder durch die Feder noch durch irgendeine Seite gefangen. Er konnte die Stehlworte formen, wie er wollte – auf Papier, in die Erde geritzt oder einfach nur im Kopf.
Es wunderte ihn fast, wie natürlich er die Begabung der Diebin ausüben konnte. Sonst hätte es ihn nicht so sehr abgestoßen. Zumindest war er dankbar, dass er keine Befriedigung über den Diebstahl empfand.
Am nächsten Morgen kehrten sie durch den Wald zurück zu den Bergen. Tarzi rannte hinauf zu der Stelle, von der aus man ehemals Silberstein überblicken konnte. Als Rostigan sah, wie ihre hoffnungsfrohe Miene Enttäuschung Platz machte, konnte er sich den Grund denken.
Die Stadt war auch nicht wieder da.
DER TEMPEL DER STÜRME
Yalenna schlug die Augen auf. Ihre Wange lag auf weißem Stein, der so glatt war, dass er sich beinahe weich anfühlte. Sie strich mit den Fingern darüber.
Es waren Menschen in der Nähe, das spürte sie, und als sie durch die wirren Strähnen ihres schneeweißen Haares spähte, sah sie nackte Füße, die über den Steinboden schritten. Hinter ihr war eine Marmorstatue in die Wand eingelassen, eine junge Frau, die mit ernstem Gesicht in die Ferne starrte. Lange Locken fielen ihr frei über den Rücken, und ihre Robe wurde an der Schulter von einer Fibel in Form eines Blitzes gehalten. Als Yalenna sie sah, wurde ihr bewusst, dass sich ihr etwas Gezacktes in die Schulter drückte, wo diese den Stein berührte. Sie stemmte sich hoch und sah, dass sie an ihrer Robe die gleiche Blitzfibel trug wie die Statue.
Obwohl ihr die Umgebung vertraut war – sie befand sich im Tempel der Stürme –, war sie verwirrt und erstaunt. Hier hatte es doch keine Statue von ihr selbst gegeben?
»Das Ende des Sturms!«, erklang eine Stimme ganz in der Nähe.
Sie gehörte einem Mann, der ebenfalls eine weiße Robe trug. Er starrte sie an, dann die Statue und schließlich wieder sie. Andere blieben ebenfalls stehen, Männer und Frauen in den gleichen Tempelgewändern. Alle drängten sich heran und flüsterten aufgeregt miteinander.
»Sie sieht aus wie die Steinfigur!«
»Wind und Feuer, das ist unmöglich.«
»Die Große Magie vergisst keine Strukturen. Alles kann zurückkehren.«
»Nein, es ist eine List, eine Täuschung.«
»Ein Wunder! Wir sind gesegnet.«
Manche fielen auf die Knie, andere beäugten sie unsicher.
Yalenna runzelte verwirrt die Stirn, nicht nur wegen der Zuschauer, sondern weil sie langsam wach wurde.
Sie sollte nicht hier sein.
Sie war hier gestorben.
Jahre nach dem Sturz des Herrn der Tränen und nachdem die Wächter, die dabei dem Bösen verfallen waren, unschädlich gemacht worden waren, hatten sie und Braston erkannt, dass auch sie selbst die Verderbnis in sich trugen. Nicht auf die brutale, chaotische Weise wie die anderen, nicht so von Zerstörungsdrang getrieben … aber dennoch zerstörerisch, langsam und unaufhaltsam: schlicht durch ihre Existenz. Die Kräfte, die ihnen gewährt worden waren, hätten sie nicht besitzen dürfen, und ihre Anwendung beschädigte die Welt im Innersten. Schon spürte sie, wie es abermals geschah.
Segnungen sickerten aus ihr heraus. Winzige Kringel gebündelter Fäden lösten sich mit jedem Atemzug von ihr, schwebten davon, drangen in die Menschen ein und verwoben sich mit ihnen. Eine gesegnete Person würde vielleicht ihre wahre Liebe finden, im Glücksspiel gewinnen oder eine Woche lang jeden Morgen von zutraulichen Tauben besucht werden. Das Gute sollte keinen Schaden anrichten, aber sie wusste, dass es die Welt auf eine unerwartete Weise veränderte. Vielleicht würde der Mann, der seine wahre Liebe fand, dafür die Ehefrau verlassen und ihr das Herz brechen. Vielleicht würde der Verlierer beim Kartenspiel voller Wut über das Glück des anderen den Dolch ziehen. Vielleicht würde ein Küken der Tauben von einer Beutelratte aus dem unbewachten Nest geschleppt werden, während die Eltern fort waren. Ihre Segnungen, das wusste sie, beeinflussten den Lauf der Dinge. Das konnte sie nicht verhindern,
Weitere Kostenlose Bücher