0253 - Judys Spinnenfluch
»Wo finde ich das Mädchen?« fragte ich den Arzt und schaute ihn scharf an.
Er lachte auf. »Mädchen ist gut, Oberinspektor.«
»Was ist es dann?«
Der Doktor lächelte unecht und krampfhaft. »Sie hat Augen, die…« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das müssen Sie sich selbst ansehen, Mr. Sinclair. Kommen Sie, ich habe keine Erklärung.« Er drehte sich um und ging mit hastigen Schritten vor.
Erst mein Ruf stoppte ihn. »Wissen Sie, Doc, da ist noch der Mann, der mit der Kleinen gesprochen hat.«
»Sicher, aber den können Sie später fragen. Sehen Sie sich zuerst einmal Judy an.«
Ich hatte nichts dagegen. Schließlich war ich aus diesem Grund in das Krankenhaus gekommen. Genaues wußte ich nicht, und auch nicht mein Chef, Sir James, der mir den Job zugeschanzt hatte. Mir war nur bekannt, daß es um ein Mädchen ging, dessen Aussehen man als seltsam bezeichnen konnte.
Der Gang im Krankenhaus war lang. Zudem noch kahl und irgendwie steril. Ich mochte diese Flure nicht, wo zwischen den Türen oft Betten und fahrbare Medikamentenschränke standen. Wenn ich ein Krankenhaus sehe, dann zieht sich bei mir immer der Magen zusammen, und ich muß mich jedesmal schütteln.
So auch an diesem Tag. Dieses Haus erinnerte mich fatal an eines, in dem eine gute Freundin von mir gestorben war. Nadine Berger.
Ich hatte im selben Hospital gelegen. Eine Schußwunde machte mir damals zu schaffen, aber Nadine starb, ich lebte, obwohl ihre Seele im Körper eines Wolfs weiterexistierte.
Heftig schüttelte ich den Kopf, als sich meine Gedanken damit beschäftigten, und der Arzt mußte mich zweimal ansprechen, bevor ich etwas verstand.
»Wir sind da, Mr. Sinclair!«
»Danke.« Ich schaute zu, wie der Mediziner die Tür öffnete und mir den Vortritt ließ.
Man hatte das Mädchen in ein Einzelzimmer gelegt. Es sollte ungestört sein. Jalousien bedeckten die Scheiben. Das Tageslicht sickerte nur schwach hindurch und malte verwaschene Streifen auf den mit PVC bedeckten Boden.
»Ich werde Sie jetzt einige Minuten mit der Patientin allein lassen«, sagte der Arzt, nickte mir noch einmal zu und verschloß die Tür von außen.
Mir sollte es recht sein, obwohl ich, ehrlich gesagt, nicht genau wußte, wie ich das Gespräch beginnen sollte. Dafür wußte ich zu wenig von dem Mädchen.
Nur den Vornamen kannte ich.
Judy!
Unwillkürlich dämpfte ich meine Schritte, als ich auf das Bett zuschritt. Auf den ersten Blick schien Judy zu schlafen, ich wollte sie nicht stören und blieb mit dem Rücken zum Fenster neben dem Bett stehen. Als ich den Kopf senkte, schaute ich in ein schmales, zerbrechlich wirkendes Gesicht mit hochstehenden Wangenknochen und blassen Lippen, die sich kaum von der Hautfarbe abhoben. Die Decke reichte bis zum Kinn, Haare umrahmten das Gesicht. Es war blaß. Man konnte die langen Strähnen nicht als blond bezeichnen und auch nicht als grau, eher als ein Mittelding.
Ihr Alter war schwer zu schätzen. Vielleicht 22 Jahre.
Sie schien mich noch nicht bemerkt zu haben.
Ich kam mir ein wenig deplaziert vor, doch irgendein Geheimnis mußte es schließlich geben, und das wollte ich herausfinden.
Deshalb sprach ich mit leiser Stimme: »Judy?«
Ihre Mundwinkel zuckten. Ja, sie hatte mich gehört. Ich sah auch, wie sich unter der dünnen Decke die Hände bewegten, sonst bemerkte ich keine Reaktion.
»Judy, bitte! Ich bin gekommen, um Ihnen einige Fragen zu stellen. Vielleicht kann ich Ihnen helfen. Sagen Sie mir, was Sie bedrückt und was ich für Sie tun kann. Bitte…«
Jetzt öffnete sie den Mund. Es war ein langer, seufzender Atemzug, der über die Lippen drang, und gleichzeitig öffnete das Mädchen, von dem ich nur den Vornamen kannte, die Augen.
Ich zuckte zurück.
Judy war blind!
***
Damit hatte ich nicht gerechnet. Vor mir im Krankenbett lag ein blindes Mädchen. Eigentlich kein Grund zur Panik und zur Aufregung, aber ich war eben schockiert und auch verwundert darüber, daß mir der Arzt nichts davon gesagt hatte.
Ich schaute auf die Augen.
Seltsam waren sie. Sie sahen aus, als ob sie mit einer grauen Masse gefüllt waren, die auf irgendeine Art und Weise silbrig schimmerte. Diesen Ausdruck konnte man beim besten Willen nicht als normal bezeichnen. Etwas mußte mit Judy geschehen sein.
Zum erstenmal sprach sie. »Haben Sie es nun bemerkt, Mister?«
»Ja«, erwiderte ich leise. »Ich weiß jetzt, daß Sie blind sind. Es… es tut mir leid…«
»Sie brauchen nicht so zu lügen. Leidtun! Lassen Sie die
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