Der Herr der Tränen
Freund Harren«, sagte sie und pustete ihm etwas zu.
Mögen Vögel niemals ihre Hinterlassenschaften auf deinen Kopf fallen lassen.
Harrens Augenbrauen schossen in die Höhe. Er konnte nicht wissen, womit sie ihn gesegnet hatte, trotzdem schien er sich zu freuen. »Vielen Dank. Aber, Herrin, ich möchte dir raten, umsichtiger im Gebrauch mit deiner Magie vorzugehen.«
»Das spielt jetzt kaum eine Rolle«, sagte Yalenna. »Ich kann die Segnungen, die mir entfleuchen, nicht aufhalten. Ich kann sie nur ausformen.«
Harren nickte. »Aber du bist erschöpft, Herrin. Vielleicht ist es Zeit zu ruhen?«
»In Kürze. Zunächst müsst ihr mir erzählen, was sich während meiner Abwesenheit in Aorn zugetragen hat.«
Der Tempel der Stürme lag am Rande der gewaltigen Sturmwüste, wo sich Streifen von Präriegras voller Hoffnung in die sandige Ödnis hinaustasteten. Es war der friedlichste Ort, den Yalenna je kennengelernt hatte, wo Fadenwirker, die vor allem mit den Elementen arbeiteten, sich einem Leben in Harmonie mit der Großen Magie widmeten. Einen Augenblick blickte sie zu den zwiebelförmigen weißen Gebäuden hinüber und stellte sich vor, wie ihr Leben ausgesehen hätte, wenn sie als Priesterin weitergemacht hätte. Sie hätte die Tempelschüler darin unterrichtet, den Wind zu beherrschen, die Sonne zu lenken und den Regen dorthin zu schicken, wo er gebraucht wurde – stetes Wirken mit der Großen Magie und dem Einsatz ihrer Fähigkeiten zum Besten der Menschheit. Das wäre durchaus erstrebenswert gewesen, und heute hätte sie es längst hinter sich. Stattdessen war Mergan, ihr alter Meister aus der Schule des Fadenwirkens von Althala, kurz nach ihrer Ernennung zur Priesterin erschienen und hatte sie gebeten, ihn auf seinem Weg in die Welt des Herrn der Tränen zu begleiten. An jenem Tag hatte sich alles für sie geändert.
»Ich schaffe es von hier aus schon allein«, sagte Yalenna zu ihren Begleitern.
Arah wirkte niedergeschlagen, doch Harren war nichts anzumerken. Er hatte sich als zuverlässiger Quell für die jüngste Geschichte erwiesen und in der vergangenen Nacht lange mit ihr gesprochen – bis sie sich hinlegen und ruhen musste. Alles in allem schien sich in ihrer Abwesenheit wenig verändert zu haben.
»Ich wünschte, ich könnte bleiben«, sagte sie zu Arah. »Wirklich.« Sie fasste das Mädchen an den Schultern und küsste es auf die Stirn.
»Der Bildhauer hat ganze Arbeit geleistet«, sagte Harren, »und deine Schönheit eingefangen, Herrin.«
Yalenna lächelte. »Du weißt, wohin ich reise. Falls du mir eine Nachricht zukommen lassen musst.«
Sie ließ die zwei zurückgehen zu ihrem Flickenteppich aus Sand und Gras und fruchtbarem Land. Zuschauer konnte sie nicht brauchen, deshalb ging sie, bis sich etwas Buschwerk zwischen ihr und dem Tempel befand. Im Schatten kniete sie nieder, versuchte, ihren Kopf freizubekommen, kämpfte um ihre Konzentration und stieß immer wieder auf die gleiche, aufdringliche Erinnerung …
Die blinden Augen des irren Lords, des Herrn der Tränen, schienen sie auf dem Dach seines Turms zu beobachten, während ihm das wirre rote Haar um den Kopf flatterte. Sie konnte nicht glauben, dass er tot war, obwohl sie und die anderen so sehr darum gekämpft hatten. Er hatte die Welt zerstören wollen, aus irrsinnigen Gründen, die er mit sich ins Grab neben würde, und sie hatten ihn aufgehalten – wieso also fühlte sie sich nach dem Sieg so niedergeschlagen?
»Hoch, Yalenna«, rief Karrak. Sie hob den Kopf und sah den Fürsten mit dem rabenschwarzen Haar, der ihr eine Hand entgegenstreckte und sie sorgenvoll anblickte. Über ihm klaffte die Wunde im Gewebe der Welt, offen mit rot ausgefransten Rändern. Dahinter war zu sehen, was niemals Blicken ausgesetzt sein sollte, das Innenleben der Großen Magie. Es sah aus wie die bunten Venen eines Riesen, die aus eng verschnürten kleinen Fäden zusammengewoben waren und einander umschlangen. In der pulsierenden Masse gab es zerrissene Stellen und Stücke, wo der Herr der Tränen etwas gestohlen hatte.
Wie hatte er so waghalsig sein können? Musste nicht angesichts solch monumentalen Diebstahls selbst ein wahnsinniger Verstand zittern und jede Seele zurückscheuen?
»Diese Wunde darf nicht weiter schwären«, sagte Karrak und half ihr auf. Sie schüttelte sich, als könne sie so die Trostlosigkeit loswerden, die der Herr der Tränen hinterlassen hatte.
Kalter Wind wehte durch das große Tal und erreichte sie auf dem Dach des
Weitere Kostenlose Bücher