Der Herr der Tränen
Turms. Er trug den Lärm der Schlacht vom Südende heran, wo der Pass ins Tal gegen die Heere von Aorn verteidigt wurde.
»Jemand sollte unser Volk benachrichtigen«, sagte Yalenna und hielt sich an Karraks Arm fest, »dass nicht länger gekämpft werden muss. Auch die Entflochtenen sollen erfahren, dass sie keinen Herrn mehr haben.«
»Die Untertanen des Herrn der Tränen tragen seinen Makel vielleicht ihr Leben lang«, sagte Karrak verdrossen. »Wir können nur hoffen, dass sie ihn nicht an ihre Kinder weitergeben. Oder dass sie nicht lange genug leben, um welche zu bekommen.«
Yalenna ließ den Blick zu den Gestalten in der Ferne schweifen. Hatte sie wirklich gehofft, das Ableben des Herrn der Tränen werde sie wieder zu den Menschen machen, die sie vorher gewesen waren?
»Wächter«, rief Mergan. Der grauhaarige Fadenwirker stand in der Mitte des Daches, die anderen umgaben ihn in unterschiedlichen Zuständen der Benommenheit. Salarkis lag auf den Knien und weinte leise. Despirrow starrte ins Leere, seine zuvor so prächtige Robe schmutzig und zerknittert. Die kleine Jillan biss sich so heftig auf die Unterlippe, dass Blut hervortrat. Braston stützte sich auf sein Schwert, als würde es ihn aufrecht halten.
»Reißt euch zusammen«, sagte Mergan. »Wir müssen zuerst versuchen, die Wunde zu schließen.«
Despirrow warf ihm einen besorgten Blick zu. »Aber wie? Nur der Herr der Tränen wusste, wie man die Fäden der Großen Magie beeinflusst.«
»Wir müssen es trotzdem versuchen«, erwiderte Mergan. »Ihr seht, wo die Fäden zerrissen wurden. Man muss sie neu verflechten, bis sie wieder so liegen wie vorher.«
»Aber wohin sind sie verschwunden?«, wollte Braston wissen.
Plötzlich stiegen von der Leiche des Herrn der Tränen eine Reihe fremdartiger Fadenbündel auf. Sie hatten nichts mit den menschlichen Fäden zu tun, die Yalenna kannte, und sie verblassten auch nicht wie die ureigenen Fäden des Herrn der Tränen. Sie lösten sich einfach aus dem verschwundenen Gefüge und trieben mit zunehmender Geschwindigkeit umher.
»Mergan«, rief sie und zeigte es ihm.
Mergan fuhr herum, als ihn etwas wie ein Geflecht aus Sehnen am Kopf traf, und fiel auf den Rücken. In der Nähe schob sich ein blaues Ding mit Tentakeln über die Steine und sprang in die Höhe. Yalenna zuckte zusammen, doch das Ding stürzte sich nicht auf sie. Stattdessen umschlang es Jillans Bein und drang in sie ein. Jillan sank mit leerem Blick zu Boden. Überall flogen Teile von Strukturen umher, und Yalenna geriet ins Taumeln, da sich Karrak plötzlich von ihr löste.
»Sie dürfen nicht in euch eindringen!«, schrie er, doch im nächsten Moment schauderte er, weil sich eine schwarze Schlinge auf seine Brust pflanzte und sich in ihn hineinwand.
Yalenna hatte nicht sehen können, was über sie hergefallen war, aber es gab keinen Zweifel, dass da etwas war. Sie erinnerte sich an einen eigenartigen Schmerz, als dieses Ding in ihre Struktur eindrang. Um sie herum verschwamm alles. Dann war Mergan neben ihr und krächzte etwas. Yalenna versuchte ihn zu verstehen.
»Salarkis«, sagte er.
Sie folgte seinem Blick. Der neue Körper ihres Mitstreiters raubte ihr den Atem.
»Was ist geschehen?«, fragte Salarkis und starrte auf seine wie versteinerten Hände. »Meine Güte! Es fühlt sich an, als könne ich es endlich! Alle die vergeblichen Lektionen, Mergan, und jetzt beherrsche ich doch den Fadengang! Mergan!«
Er grinste, zeigte scharfe, raubtierähnliche Zähne und löste sich im nächsten Augenblick auf. Er vollführte den Fadengang schneller und gekonnter, als Yalenna es je gesehen hatte.
»Halt!«, rief Mergan. »Wir müssen zusammenbleiben! Damit wir verstehen, was mit uns passiert ist.«
Salarkis verschwand trotzdem. Hinter der Stelle, an der er gestanden hatte, schnatterte Forger aufgeregt.
Braston beugte sich über Jillan, die versuchte, ihr Gesicht zu verbergen.
»Jillan?«, fragte er. »Alles in Ordnung?«
»Sieh mich nicht an!«, rief sie seltsam gurgelnd. Sie schirmte ihren Mund vor seinem Blick ab, lief los und rannte die Turmtreppe hinunter.
»Warte!«, schrie Mergan. »Jillan!«
Jillan wandte sich nicht um.
Yalenna spürte die Verwandlung jetzt auch in ihrem Inneren und sah die Segnungen, die aus ihr herausströmten, obwohl sie noch nicht begriff, worum es sich handelte. Ängstlich suchte sie bei Karrak Unterstützung, doch der starrte sie kalt und stahlhart an.
»Karrak?«
Er war nicht mehr er selbst. Er war der
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