Der Herr der Tränen
»Mein Verstand ist für so lange Zeit so gequält worden. Am Anfang habe ich versucht, ihn beschäftigt zu halten. Habe darüber nachgedacht, wie ich fliehen könnte – versucht, die Schlösser in meinem Geist zu öffnen, die mich daran hinderten, meine Magie zu benutzen. Ich habe an das gedacht, was ich den Entflochtenen zurufen könnte, falls sie jemals in meine Nähe kämen, bis ich begriff, dass sie mich nicht hören konnten. Sie sahen nur einen erbärmlichen alten Mann, der lautlos hinter einem dunklen Eingang schrie und der ihnen zweifellos wie ein Geist erschien.
Ich habe versucht, mir selbst Gesellschaft zu leisten, habe mit mir selbst gesprochen, bis meine Kehle austrocknete. Für eine Weile beschäftigte mich der Schmerz, während mein Körper welkte und mein Magen sich zu einer schwarzen Nuss zusammenzog … und dann, nach einer Weile, hörte der Schmerz auf, und eine Art von Benommenheit setzte ein. Nur meine Augen wurden schärfer, während ich in dem spärlichen Licht, das die Tage brachten, jeden Winkel meines Gefängnisses erforschte – auf der Suche nach irgendetwas Hilfreichem. Für eine Weile war ich wie besessen von der Überlegung, dass ich in dem fahlen Licht keine Farben erkennen konnte und vielleicht etwas Farbiges auf den Wänden oder auf dem Sarg geschrieben stand, das ich nicht lesen konnte, weil es zu wenig Licht gab. Ich strich mit den Händen über jede Oberfläche und versuchte, Farbe oder Tinte zu finden oder irgendeine leichte Veränderung in der Textur, die auf Worte schließen ließ. Ich fragte mich, ob ich vielleicht schmecken konnte, was ich suchte, und schrieb die Worte, die ich zu finden hoffte, mit meiner ausgedörrten Zunge auf den Stein.
Manchmal habe ich geschlafen. Vielleicht Jahre, ohne mich zu bewegen. Ich habe mich in Träumen verloren – von besseren Zeiten … von euch beiden, wie ihr zu meiner Rettung kamt … von meinen Enkeltöchtern – und wenn ich erwachte, begriff ich, dass sie inzwischen alte Frauen sein mussten, so viele Tage hatte ich dahingehen sehen. Manchmal träumte ich von mir selbst, wie ich wirklich war, wie ich dort lag, eingekerkert sowohl im Traum wie auch im Leben. Und dann …«
Er legte die Hände um den Kopf. »Ah! Ah!«
Ein Anfall überkam ihn; er krümmte sich zusammen, wiegte sich vor und zurück, während er weinte.
»Oh Mergan«, sagte Yalenna leise und legte ihm eine Hand auf den Rücken. »Ich kann dich nicht bitten, uns zu verzeihen.«
Braston schien selbst den Tränen nahe zu sein, und der Kopf sank ihm auf seine Brust. »Tut mir leid, mein Lieber. Wir haben dich wahrhaftig im Stich gelassen, nicht wahr?«
»Ja«, schluchzte Mergan in seinen Schoß. »Ja!« Und dann: »Nein.« Er hob den Kopf; ihm standen Tränen in den Augen. »Es ist nicht eure Schuld. Warum habe ich euch nicht gesagt, wo ich hinging? Ich war zu impulsiv.« Er wischte sich die Augen. »Was war ich doch für ein Narr.«
»Du hast versucht, Aorn zu helfen«, erwiderte Braston.
»Ja.«
»Aber jetzt bist du frei!«
Mergan lächelte traurig und legte sich einen Finger auf die Schläfe. »Ich denke nicht.« Er knüllte die Tasche zusammen, die er immer noch festhielt. »Ist noch mehr Brot da?«
»Es gibt jede Menge Brot, wenn wir wieder in Althala sind«, antwortete Braston.
Mergan schüttelte den Kopf. »Es hat keinen Sinn.«
»Sag uns, was du brauchst, alter Freund.«
»Frieden«, erwiderte er. »Frieden, den ich im Leben nicht finden werde.«
Sein klagender Blick ließ Yalenna erzittern.
»Bitte«, fuhr er fort. »Ihr könnt nicht verstehen, daher flehe ich euch an, mir zu vertrauen, flehe euch an, mir in dieser Hinsicht zu helfen. Der Tod ist meine einzige Hoffnung auf Erlösung. Ich habe versucht, ihn für mich selbst zu finden, aber ich heile immer wieder. Wenn ihr es für mich tut, könntet ihr dafür sorgen, dass ich nie wieder aufwachen werde!«
Yalenna schauderte bei dem Gedanken, denn sie wollte nicht das Blut von noch mehr Freunden an den Händen haben. Aber schuldete sie ihm möglicherweise, worum er bat?
»Wir sind der Beweis«, sagte sie traurig, »dass der Tod deine Nöte nicht beseitigen wird.«
»Das ist mir gleich!«, zischte er, und seine plötzliche Vehemenz ließ sie zusammenzucken.
Er blinzelte, als sähe er sie zum ersten Mal, dann wischte er sich über die Augen und schnüffelte.
»Kannst du nicht erkennen, wie sehr ich weinen möchte?«, fragte er. »Tränendrüsen heiß und voll – ich kann nicht einmal ansatzweise das
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