Der Herr der Tränen
und in einiger Entfernung von dem Grabmal saßen Yalenna und Braston und beobachteten Mergan, wie er alles Essen verzehrte, das sie mitgebracht hatten. Braston brannte darauf, im Fadengang rasch nach Hause zurückzukehren, aber er zwang sich zu Geduld. Mergan war noch nicht so weit – selbst er konnte das sehen.
Yalenna war entsetzt über den Zustand, in dem sie Mergan vorgefunden hatten. Sie erinnerte sich an einen starken, lebhaften alten Mann und hätte dieses schmuddelige, graue, bis auf die Knochen abgemagerte Gespenst mit verfilztem, langem Haar nicht wiedererkannt. Mergans Kleider waren fadenscheinige Lumpen – erstaunlich, dass sie noch immer an ihm klebten nach all dieser Zeit –, und er roch nach uraltem Staub. Zumindest hatten Wasser und Nahrung eine positive Wirkung, sodass ein Funken Farbe in seine Wangen zurückkehrte. Sein Körper würde vielleicht schnell heilen … was ihr wirklich Sorgen machte, war sein Geist.
Er sprach leise mit sich selbst und warf ihnen unstete Blicke zu; er wusste immer noch nicht genau, ob sie wirklich hier waren. Er war nicht einmal davon überzeugt, dass er hier war. Ihn so zu sehen brach ihr das Herz – zu wissen, dass er, während sie und Braston friedlich geschlummert hatten, in einem lebenden Alptraum gefangen gewesen war.
Wir hätten weitersuchen sollen. Ja, das hätten wir.
Er ließ ein kleines Stück Brot direkt über seinem Finger schweben und rotieren. Dann schnippte er, und es flog in seinen Mund.
»Magie«, flüsterte er, und Yalenna nickte.
Nur kurz hatte sie gespürt, was er jahrhundertelang erlitten hatte. Als sie das Grabmal betreten hatte, hatten ihre Segnungen sich in Luft aufgelöst und alle Fähigkeiten im Fadenwirken mit ihnen. Es war seltsam und unbehaglich gewesen, als hätte sie vergessen, wie man atmet, und sie hatte zutiefst gefürchtet, dass dieser Verlust von Dauer sein würde – obwohl der Verlust ihrer Segnungen, während sie jetzt darüber nachdachte, genau das war, was sie zu erreichen versuchte.
»Ah«, sagte Mergan und schmatzte mit den Lippen, »haben wir noch mehr Brot?«
»Nicht hier«, antwortete Braston.
»Was ist mit diesen Beeren?«
»Mein Freund, sobald wir nach Althala zurückkehren, werde ich dir ein Festmahl vorsetzen, das mit allem konkurriert, was deine Fantasie heraufbeschwören kann.«
»Meine Fantasie?«, wiederholte Mergan besorgt.
Braston sah Yalenna Hilfe suchend an.
»Hab keine Angst.« Sie legte Mergan eine Hand aufs Knie, und er starrte sie verwirrt an. »Es wird dir wieder gut gehen.«
War er es, den sie zu überzeugen versuchte?
Er holte tief Luft. »Wie lange?«, krächzte er.
»Wie bitte?«
»Wie lange dort drin?«
»Oh.« Yalenna konnte sich beinahe nicht dazu überwinden, es ihm zu sagen. »Etwa … dreihundert Jahre.«
Sie dachte, dies würde ihn schockieren, aber er reagierte nicht sofort. Stattdessen stocherte er in seinen Zähnen herum und förderte einen Beerensamen zutage, den er sich schnell wieder auf die Zunge legte.
»Wir dachten, du wärest tot«, bemerkte Braston. »Und … nun … wir waren ja auch tot, die meiste Zeit während dieser dreihundert Jahre.«
»Was?«
»Wir dachten, wir würden helfen«, erklärte Yalenna bekümmert. »Indem wir die anderen töteten und dann uns selbst … wir dachten, wir würden die Große Magie heilen, indem wir die Fäden zurückgaben, die wir genommen hatten.«
»Die Große Magie«, wiederholte Mergan.
»Es hat nicht funktioniert. Wir alle sind zurückgekehrt. Erst vor wenigen Tagen.«
»Die Große Magie ist nicht geheilt?«
»Nein. Tatsächlich scheint es so, als wäre es mit unserer Rückkehr nur schlimmer geworden.«
Mergan wühlte in Brastons Tasche nach Krümeln.
»Hast du in dem Grabmal irgendetwas gefunden?«, fragte Braston. »Irgendwelche Hinweise darauf, was Regret getan hat oder wie er es getan hat? Was wir benötigen, um die Dinge in Ordnung zu bringen?«
Mergans Miene verdüsterte sich. »Da drin ist nichts. Nichts … fünftausendvierhundertund… nichts.« Er schüttelte den Kopf. »Ihr sagt, dass die anderen … ja, ich kann ihre Gesichter sehen … sie sind vom Tod zurückgekehrt?«
»Ja«, bestätigte Braston, »und wir müssen sie einmal mehr überwinden! Du wirst uns helfen, jetzt, da du wieder in Form bist, nicht wahr, alter Junge?«
Mergan starrte ihn kurz an, bevor sein Blick wieder unstet wurde. Yalenna sah Braston tadelnd an, aber der zuckte nur verwirrt die Achseln.
»Ich bin so müde«, seufzte Mergan.
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