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Der Herr der Tränen

Der Herr der Tränen

Titel: Der Herr der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Bowring
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die Ecke geschlittert und blieb wie angewurzelt stehen angesichts dessen, was sie vor sich sah. Die beiden abgestürzten Rachen waren noch nicht tot; das Blut, das sie überströmte, hatte zur Folge, dass ein wenig Seide übrig geblieben war, um ihre klapprigen Knochen zusammenzuhalten. Als eine einzige Masse aus Flügeln und Gliedern setzten sie sich torkelnd und ineinander verheddert auf Tarzi zu in Bewegung. Sie wappnete sich, rannte ihnen entgegen, schlug mit ihrer Fackel auf sie ein, tanzte immer wieder außer Reichweite ihrer gefährlichen Bisse und trampelte ihnen auf den Flügelspitzen herum.
    Rostigan kümmerte sich schnell um den letzten Rachen und brach ihm mit zwei kräftigen Schwerthieben auf die Schultern die Flügel. Dann versetzte er ihm einen anständigen Tritt, der ihn vom Dach auf Tarzis Haufen beförderte.
    »Mach dem für mich den Garaus, ja?«, bat er, während er sich grinsend über den Rand des Daches beugte. Er bewunderte den Mut seiner Bardin.
    »Wie bist du so schnell da raufgekommen?«, fragte sie, ohne den Seidenrachen vor sich eine Ruhepause zu gönnen.
    »Gesprungen.« Er zuckte die Achseln.
    »Ich kann schon den Liedtext hören«, ächzte Tarzi. »Er ist auf dem Haus in einem Schritt, erlegt das Monster mit schnellem Tritt.«
    »Hübsch«, sagte er.
    Ihre Reime ließen ihn an die Macht der Diebin denken. Er hatte versucht, sie zu vergessen – es war einfach ein weiteres Talent, das er nicht zu benutzen wagte –, aber jetzt hatte er die Tore geöffnet. Er wusste allerdings nicht, ob es funktionieren würde. Die Fäden der von Regret erschaffenen Kreaturen ließen sich nicht so leicht beeinflussen. Wie für die Wächter galten für sie eigene Gesetze, und viele davon waren leider unbekannt.
    Ich kann es ja einfach probieren.
    Er sah einen Rachen in einiger Entfernung nach unten schießen und sprach die Worte.
    Seidenrachen sei nicht mehr.
    Sein Spruch fand kein Ziel, und kein Echo seiner Stimme hing in der Luft. Der Rachen setzte seinen Sturzflug fort und geriet außer Sicht, ganz und unversehrt. Geradeso, wie er es vermutet hatte.
    Von seinem Ausguck aus konnte er Teile des Lagers außerhalb der Mauern erkennen. Da dort viele offene Feuer brannten, vermutete er, dass die Seidenrachen es größtenteils gemieden hatten. Jetzt strömten die Soldaten des Lagers, einige mit einer Ausbildung von weniger als einem Tag, durch die Tore in die Stadt, um dort gegen die Kreaturen zu kämpfen.
    »Kommst du wieder runter?«, wollte Tarzi wissen. In ihrer Stimme klang leichte Beunruhigung mit.
    Einige Leute kamen die Straße entlanggerannt, machten einen großen Bogen um Tarzi und stürmten durch eine Tür in ein dunkles Haus, um sich darin zu verstecken. Sowohl er als auch Tarzi schauten dorthin, woher sie gekommen waren, aber ihnen schien nichts auf den Fersen zu sein, zumindest nicht dicht.
    »Noch einen Augenblick«, antwortete er.
    Zumindest einige seiner Talente konnten sich immer noch als nützlich erweisen.
    Er trat vom Rand des Daches zurück, damit sie ihn nicht sah, und hob die Arme.
    Höret mich.
    Über viele Wegstrecken in weitem Umkreis hinweg regten sich Hunderte kleiner Geister.
    Erhebt euch in den Himmel.
    Seine Krähen zweifelten – ihr Meister hatte seit langer Zeit nicht zu ihnen gesprochen, und sie hatten ihn beinahe vergessen. Außerdem wussten sie, dass der Himmel jetzt den Weißen gehörte.
    Die Weißen müssen fallen!, donnerte er.
    Warum?, schienen sie zu antworten. Warum, warum, warum …
    Vergesst das Warum! Ihr werdet tun, was euer Herr befiehlt!
    Nah und fern und von überall spürte er, wie sie aufflogen. Ihr Krähen erfüllte den Himmel.
    Sie haben keine Augen. Zerfetzt ihnen die Flügel, dann werden sie fallen.
    Verschiedene Bilder erreichten seinen Geist. Vor dem hohen Himmel scharten sich mehrere Krähen um einen einzigen Seidenrachen und rissen ihm mit den Schnäbeln Bündel aus den Flügeln. Sie konnten immer nur kleine Mengen gleichzeitig herauszupfen, aber da sie zusammenarbeiteten, hatte der Rachen Mühe, sich in der Luft zu halten. Er versuchte, sie abzuwehren, wurde aber schnell in Fetzen gerissen, und bald wirbelte er nach unten, während er mit einem Flügel hektisch in immer größeren Kreisen schlug.
    Einige seiner Krähen wurden verletzt oder getötet – getroffen von größeren Flügeln, und etliche der kleinen Köpfe erlitten Gehirnerschütterungen –, aber sie waren schneller und beweglicher als die Seidenrachen, und sie griffen in Gruppen an.

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