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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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noch um die Über-landstraße Nummer 6 gekämpft wurde, drang Geschützdonner
    herüber. Von Laura war nicht der kleinste Rockzipfel zu sehen.
    Nico machte sich allmählich Sorgen. Nach fünfzehn oder zwanzig Minuten erreichte er endlich die beschriebene Gabelung. Er verließ die Via dei Laghi und nahm Kurs auf Ariccia.
    Schon bald wurde die Straße abschüssig. Jetzt musste er seinen heftig klappernden Drahtesel sogar zur Mäßigung ermahnen, weil er fürchtete, das alte Gefährt könnte sich unter ihm in seine Einzelteile auflösen. Und dann sah er sie.
    An dieser Stelle verlief die Straße, gesäumt von frischem Grün, 492
    zunächst schnurgerade in eine Senke hinab, danach wieder den Berg hinauf und verschwand schließlich oben in einer Kehre im Wald. Laura erwartete ihren Verfolger kurz hinter der Talsohle.
    Ihr Fahrrad stand an einen Busch gelehnt.
    Für Nico gab es jetzt kein Halten mehr. Seine offene Jacke flatterte im Wind. Der Drahtesel schepperte auf das Mädchen zu. Als er den tiefsten Punkt der Straße erreicht hatte, zog er die Hand-bremse. Danach passierte zunächst einmal gar nichts. Erst als er beherzter zupackte, stellte sich so etwas wie Verzögerung ein. Mit überraschendem Schwung raste er an Laura vorbei und noch ein gutes Stück den Hang hinauf.
    Endlich kam er zum Stehen, ließ das Fahrrad einfach am Stra-
    ßenrand liegen und lief zu Laura zurück. Sie trug flache, schwarze Schuhe, kurze Söckchen, ihr geblümtes cremefarbenes Kleid mit halbem Arm und einen dazu passenden Haarreif. Ihre Hände
    waren hinter dem Rücken versteckt. Den Ausdruck auf ihrem Gesicht konnte Nico schwer deuten – irgendetwas zwischen Strenge und Sehnsucht. Merkwürdigerweise kostete ihn jeder Schritt auf sie zu mehr Anstrengung, als er es in dieser Situation erwartet hätte. Er breitete die Arme aus.
    »Laura, ich …«
    »Bleib stehen und schweig still, Nico dei Rossi!« Sie hatte ihren rechten Arm hochgerissen und hielt ihm die Handfläche entgegen.
    Stolpernd kam er zum Stillstand, drei, höchstens vier Schritte von ihr entfernt. Seine Verwunderung brach sich Bahn: »Laura!
    Freust du dich denn nicht …?«
    »Doch!«, stieß sie hervor, sah aber nicht so aus. Ihre Unterlippe bebte, als wolle sie jeden Moment zu weinen beginnen.
    »Aber … deine Stiefmutter hat mir deine Nachricht ausgerichtet: Wenn ich dich wirklich liebe, dann werde ich dich finden. Hier bin ich, Laura!« Seine Hände strebten noch weiter auseinander.
    »Das sehe ich. Mehr hat Genovefa dir nicht gesagt?«
    »Doch. Sie sagte, wenn ich dich wahrhaft liebe, dann wird das Unmögliche geschehen.«
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    »Und?«
    »Was meinst du?«
    »Glaubst du daran?«
    »Ich weiß nicht … Vor drei Tagen habe ich im Meer die Ruinen von Neptunia gesehen. Danach erhielt ich die Nachricht von der Befreiung Genzanos und wusste mit einem Mal, wo ich dich suchen musste. Das war für mich Wunder genug, um …« Er
    schüttelte ratlos den Kopf, weil ihm unklar war, was sie von ihm erwartete.
    »Ich will deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen, Nico.
    Sieh mir genau zu.« Jetzt holte sie auch ihre linke Hand hinter dem Rücken hervor. »Was siehst du?«
    »Eine Weinflasche?«, antwortete Nico überrascht.
    Ihr Ton blieb sachlich. »Es ist nur Wasser drin. Schau her!« Sie lief zur Mitte der ansteigenden Straße, ging in die Knie, legte die Flasche quer zur Fahrtrichtung nieder und ließ sie los. Was dann geschah, überraschte Nico, nein, es erschütterte ihn.
    Die Flasche kullerte den Berg hinauf.
    Laura lief ein Stück weit nebenher. Wenn die raue Straße etwas glatter gewesen wäre, hätte sie dem munter hangan klimpernden Glaszylinder wohl nicht so gemächlich folgen können. Dennoch musste sie ihr Tempo stetig steigern. Nicos Mund stand offen.
    Seine Augen drohten ihm aus dem Kopf zu fallen. Erst als Laura sich bückte, um die Flasche an der Flucht zu hindern, überwand er die Sprachlosigkeit.
    »Ist das … eine optische Täuschung.«
    Sie lief langsam zu ihm zurück. »Hast du schon vergessen, mit wie viel Schwung du da drüben hinuntergekommen bist? Und
    hier führt die Straße wieder nach oben. Lass mich dir noch etwas vorführen, Nico. Ich wollte es dir schon lange zeigen.«
    Inzwischen hatte sie wieder die Stelle kurz oberhalb der Talsohle erreicht. Sie zog den nur lose eingesteckten Korken heraus und goss den Inhalt der Flasche auf die Fahrbahn. Lächelnd fragte sie: »Was siehst du jetzt?«
    Nicos Mund war trocken, weil er ihn so lange nicht mehr

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