Der Herr der Unruhe
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tig zubekommen hatte. Wieder starrte er nur auf die klare Flüssigkeit, die sich aufmachte, den Gipfel des Hügels zu ersteigen. Er schüttelte ungläubig den Kopf.
»Das Wasser fließt den Berg hinauf. Wie ist das möglich?«
»Niemand kann es zufrieden stellend erklären, Nico, aber
trotzdem geschieht es, wann immer du willst. Dieses Geheimnis ist so unergründlich wie die Liebe, findest du nicht?«
Sie trat so dicht an ihn heran, dass keine Hand mehr zwischen sie gepasst hätte. Ihre dunklen Augen hielten seinen Blick gefangen. Er benetzte mit der Zungenspitze seine Lippen. »Ich … ich weiß jetzt, warum du mich hierher gelockt hast.«
»Dann sag es mir«, flüsterte sie. Ihre Brust hob und senkte sich vor Erregung.
»Bruno hatte behauptet, das Wasser würde eher den Berg hinauffließen, als dass aus uns beiden ein Paar werden könnte.«
»Und?« Ihre Stimme war kaum noch zu hören.
»Das Unmögliche ist ge…« Er schloss sie in die Arme, seine Lippen legten sich auf die ihren, und sie küssten sich, als wäre es das Erste und Letzte, was sie je in ihrem Leben tun würden.
Irgendwann mussten sie wieder Atem holen, und Nico nutzte die Gelegenheit, um sie seiner Liebe zu versichern. Laura indes gestand ihm, dass diese »letzte Probe« sie fast zerrissen hätte.
»Am liebsten wäre ich dir sofort in die Arme gefallen, aber ich hatte solche Angst, du könntest wieder an unserer gemeinsamen Zukunft zweifeln.«
»Das ist vorbei, mein Täubchen. Schon an dem Morgen, als die Landung in Nettunia begann, wurde mir das klar. Ich wollte zu dir, aber du warst nicht da. Und dann passierte auch noch das mit deinem Vater.«
Laura schob Nico ein Stück von sich. »Was ist mit ihm?«
»Du hast es noch nicht erfahren?«
»Wie denn? Bis vor ein paar Tagen waren noch die Deutschen in der Stadt.«
Nico glaubte, alle Kraft würde aus ihm herausfließen. Er holte tief Luft. »Er ist tot.«
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»Hast du ihn …?«
»Nein. Jedenfalls nicht direkt.«
»Was bedeutet das?«, fragte sie mit belegter Stimme.
Nico erzählte ihr die Geschichte. Er verschwieg nichts. Laura stand vor ihm, die Arme vor der Brust verschränkt, und nicht ihre Ohren, sondern ihre großen dunklen Augen schienen jedes Wort aus seinem Mund zu saugen. Als er geendet hatte, schwieg sie eine lange Zeit. Nicos Herz dagegen war alles andere als still. Er wusste, wenn Laura ihn jetzt verstieße, dann würde er nie wieder lachen können.
Ruhig machte sie einen Schritt nach vorn, schlang wieder ihre Arme um ihn, legte ihre Wange an die seine und flüsterte: »Ich liebe dich, Nico.«
Den Namen ihres Vaters nahm Laura Manzini nie wieder in
den Mund.
Der Empfang im Pfarrhaus wirkte auf Nico wie eine Verschwö-
rung.
»Und?«, fragte Giacomo Lo Bello.
Laura zog nur die Nase kraus und nickte.
»Hat er dich schon gefragt?«
»Nicht direkt.«
Der Priester bedachte Nico mit einem strengen Blick.
»Ist da irgendetwas an mir vorbeigegangen?«, erkundigte der sich ahnungslos.
»Hast du sie geküsst, mein Sohn?« Der Alte hatte seit ihrer Rückkehr jede Förmlichkeit fallen lassen.
»Äh … na ja …«
»Ja, hat er«, kürzte Laura das Drucksen ihres Liebsten ab.
»Und?«, fragte der Seelenhirte erneut, diesmal an den jungen Mann gerichtet.
Allmählich dräute Nico, worauf dieses Verhör hinauslief. »Ich würde Laura gerne heiraten.«
Sie schmunzelte. »Musst du nicht erst mich fragen?«
»Möchtest du?«
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»Ja«, hauchte sie.
»Ich dachte nur … Wir müssen wohl noch eine Weile war-
ten.«
»Wieso?«, fragte verwundert der Priester.
»Na … Laura ist römisch-katholisch. Ich dagegen …«
»Sag jetzt nichts Unbedachtes, Niklas Michel!«, unterbrach ihn rasch der Geistliche.
Nico begriff nicht sogleich. »Dieser Name ist nicht mehr …«
»Mund halten!«, schnauzte ihn der Alte an. »Wenn es euer
Wunsch ist, dann werde ich euch trauen. Dich, Laura Manzini, und dich, Niklas Michel. In Kriegszeiten gerät viel durcheinander.
Wenn erst Frieden ist, lässt sich das leicht geradebiegen.«
Endlich hatte Nico verstanden. Er lachte über seine eigene Be-griffsstutzigkeit. »Wann könnte die Trauung denn stattfinden?«
Padre Giacomo zwinkerte Laura vergnügt zu, um dem Bräuti-
gam darauf geradezu schwermütig zu antworten: »Ein Seelsorger hat unter den Umständen, wie sie uns derzeit plagen, alle Hände voll zu tun. Meine Gemeinde beansprucht mich praktisch Tag und Nacht.«
»Verstehe«, seufzte Nico.
Ein Grinsen brach
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