Der Herr der Unruhe
einzigartiger Schönheit gewesen sein. Dann wurde Emanuele plötzlich mit zerschmetter-tem Schädel in seiner Werkstatt aufgefunden. Vermutlich Diebe, denn das Haus des Ärmsten war verwüstet, sämtliche Uhren
und alles Geld verschwunden. Außerdem war Emanueles Sohn
wie vom Erdboden verschluckt. Man hat das Kind bis auf den heutigen Tag nicht mehr gefunden und nimmt an, dass sie es verschleppt und ebenfalls massakriert haben. Auf jeden Fall ging nicht mal eine Woche später Donna Genovefas Leibesfrucht ab.
Danach soll es Don Massimiliano mit der Angst zu tun bekommen haben. Es heißt, er habe zweimal vergessen, seine neue Uhr aufzuziehen, und jedes Mal, nachdem sie stehen geblieben war, starb ein Mensch. Seitdem hütet er das Stück wie ein rohes Ei. Er hat extra eine Glasvitrine bauen lassen, in der er sie aufbewahrt.
Donna Laura, seine Tochter, zieht sie täglich auf und überwacht das Schwingen ihrer Unruhe, die man durch ein Fensterchen im Zifferblatt beobachten kann. Don Massimiliano glaubt allen Ernstes, dass der Sensenmann ihn als Nächsten holt, wenn seine Taschenuhr aus irgendeinem Grund noch einmal stehen bleibt.«
»Was Sie nicht sagen!«
»Unglaublich, wie ein so stattlicher Mann sich von einem so kleinen Ührlein einschüchtern lässt, nicht wahr, Signor Michel?
Aber wenn er nur halb so viel auf dem Kerbholz hat, wie gemun-kelt wird, dann darf er auch ruhig schon ein wenig schwitzen, sozusagen als Vorgeschmack auf die Höllenglut.«
Nico hätte die Gemüsefrau am liebsten geküsst. Wie sehr sie 77
ihm doch aus der Seele sprach! Es war durchaus echte Besorgnis, als er entgegnete: »Sie haben eine spitze Zunge, Signora Pallotta.
Geben Sie Acht, dass keiner von Don Massimilianos Bütteln Ihre respektlosen Bemerkungen aufschnappt.«
»Da haben Sie nur keine Sorge, Signor Michel. Ich kann Verschwiegene und Klatschmäuler ganz gut unterscheiden.«
»In der Tat.«
Sie kniff ein Auge zusammen, musterte ihn argwöhnisch, doch ehe sie seine doppeldeutige Antwort hinterfragen konnte, beendete ein ohrenbetäubender Knall das Gespräch. Kunde und Verkäuferin wie auch einige Dutzend andere auf dem Platz warfen die Köpfe herum. Die Straßenwalze hatte sich selbstständig gemacht.
Sie fuhr führerlos über den Platz, direkt auf einen Zeitungskiosk zu. Zum Glück hatte der Verkäufer die Gefahr bemerkt und flüchtete gerade aus seinem Verschlag.
»Wie ist das möglich?«, stieß Nico hervor.
Signora Pallotta deutete hinter die Planierwalze. »Sehen Sie doch, da liegt Aldo! Er blutet am Kopf. Bestimmt ist ihm wieder schwindelig geworden.«
»Ist er denn krank?«
»Er säuft wie ein Loch …« Mit einem Mal schrie die Verkäuferin: »O Gott! Marianna!«
Nico folgte ihrem Blick und sah erst jetzt das ungefähr dreijährige Mädchen im roten Mantel, das etwas abseits vom Brunnen unter einer Palme, völlig unbeeindruckt von dem sie umgebenden Tohuwabohu, mit Muscheln spielte. Das Baufahrzeug hatte den Kiosk nicht voll getroffen und war dadurch zur Seite abgelenkt worden. Jetzt rollte es geradewegs auf das Mädchen zu. »Warum läuft denn das Kind nicht weg?«
»Weil es taub ist.«
»Und wieso holt niemand es da …? Ach, ist ja auch egal.« Nico ließ die Tüte mit den Äpfeln fallen und rannte über die Straße auf die mit Olivenbäumen und Palmen bestandene Piazza. Mittlerweile stand auch Aldo wieder auf den Beinen und hielt sich den blutenden Schädel. So wacklig, wie er war, würde er seine 78
Straßenwalze niemals rechtzeitig einholen können. Andere Leute schrien zwar, wagten aber offensichtlich nicht, es mit dem rauchenden Ungetüm aus Eisen aufzunehmen. Die übrigen blickten wie gelähmt auf das Kind. Nur der Fremde – von einigen il tedesco, der Deutsche, genannt – musste unbedingt den Don Quichotte spielen. Wie ein geölter Blitz lief er an ihnen vorbei.
»Bleib stehen!«, keuchte er leise, wohl wissend, dass er nie einer Maschine auf diese Weise Befehle erteilt hatte; die Bedienung von Straßenwalzen war ihm allemal fremd. Das Monstrum rollte stur weiter. Nur wenige Meter trennten es noch von dem Kind.
Unvermittelt taumelte ein Blatt Zeitungspapier vom Himmel herab, das der launische Dezemberwind aus den Trümmern des Kiosks entführt hatte. Sacht legte es sich über die Muscheln des Mädchens.
Endlich hob es den Kopf. Erst jetzt sah es die Stahlwalze vor sich aufragen – und schrie.
Nico näherte sich dem Gefährt aus spitzem Winkel von der
Seite. »Bleib gefälligst stehen!«
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