Der Herr der Unruhe
Nun brüllte er. Wie zum Hohn stieß das Monstrum knallend eine Rußwolke aus, rollte aber weiter. Jeden Moment musste es das Mädchen erreichen. Nico schrie vor lauter Verzweiflung auf. Er war zu langsam. Die Kleine verschwand hinter dem vorderen Rad. Der Lärm auf dem Platz schwoll zu einer schrillen Kakophonie an. Mit einem Mal blieb die Walze stehen.
Obwohl seine Beine schwer wie Blei waren, rannte Nico immer noch. Die Straßenwalze war gegen die Palme gestoßen, die ihr nun heftigen Widerstand leistete. Aber der noch junge Baum wankte bereits. Gleich würde er fallen. Weil Nico sich mit den Hebeln und Knöpfen im Führerstand ohnehin nicht auskannte, lief er vor das Ungetüm. Innerlich wappnete er sich gegen einen grausigen Anblick. Als er unter das breite Rad spähte, sprang ihm last das Herz aus der Brust.
»Marianna!«
Das Kind hörte seinen Ausruf der Erleichterung nicht, aber nur weil es taub war. Die Kleine lebte! Sie musste im letzten Mo-79
ment vor dem heranrollenden Koloss nach hinten ausgewichen sein, nur um gleich darauf mit dem Rücken gegen den Baum zu stoßen. In ihrer Angst hatte sie sich einfach flach auf den Boden geworfen. Nun klemmte sie zwischen Rad und Baum, und es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis das Monstrum die Palme niederzwingen würde.
Nico ergriff die Hände des weinenden Kindes und zog. Es
schrie nur noch heftiger, rührte sich aber nicht von der Stelle.
Anscheinend hatte sich ihr Mantel unter der Walze verklemmt.
Die Palme ächzte, als könne sie sich nicht mehr lange gegen das Ungetüm anstemmen.
»Bitte komm!«, flehte Nico und zog abermals. Es half alles nichts. Marianna brüllte wie am Spieß, aber sie bewegte sich nicht das kleinste bisschen. Vermutlich zerquetschte die Planierwalze ihr schon langsam die Eingeweide.
Verzweifelt schielte er an der Maschine entlang zu Aldo. Der aus einer Platzwunde am Kopf blutende Fahrer war gerade wieder hingefallen. Von ihm war keine Hilfe zu erwarten. »Warum tust du das?«, brüllte Nico die Maschine an. Tränen verschleierten seinen Blick. Trotzig legte er die Handflächen auf den rostigen Stahl des Frontrades. »Der alte Schluckspecht mag dich ja verletzt haben, aber das ist kein Grund, ein unschuldiges Kind in den Boden zu walzen.«
Ein paar Leute in der Nähe sahen sich betroffen an.
»Lass sie leben!«, flehte Nico. Sein Kopf hing schwer herab.
Die Augen waren geschlossen. Sanft verstärkte er den Druck seiner Hände.
Das Monstrum brüllte und ächzte, als leide es seinerseits furchtbarste Schmerzen, aber es drückte immer noch gegen den Baum.
Plötzlich begann der junge Mann leise zu summen. Niemand
auf dem Platz hörte ihn, außer der Maschine. Abermals knallte es aus dem senkrecht stehenden Auspuffrohr, eine schwarze Rußwolke stieg empor, dann ruckte die Walze ein kleines Stück nach hinten. Es gab in de Menge wohl keinen Einzigen, dem 80
es in diesem Moment nicht kalt den Rücken hinunterlief, denn aus dem Ungetüm drang plötzlich ein metallisches Stöhnen, das rasch lauter wurde.
»Komm schnell!«, schrie Nico und zog noch einmal an Mari-
annas Armen.
Und diesmal bewegte sie sich. Ihr Mantel hing jedoch immer noch fest.
»Zieh ihn aus!«, rief Nico.
Das Mädchen brüllte nur.
Hastig befreite er sie aus dem roten Kleidungsstück, was gar nicht so einfach war, denn das Kind strampelte wie verrückt. Das Stöhnen des Ungeheuers schwoll derweil immer bedrohlicher an.
Dann krachte es. Irgendetwas war zerborsten.
Nico riss das Mädchen aus dem Mantel, drückte es fest an sich und rollte mit ihm zur Seite. Im nächsten Augenblick machte das Monstrum einen Satz nach vorne; wenigstens sah es so aus.
Holz splitterte. Die Palme begann zu kippen. Wie toll setzte die Walze nach, rollte noch ein Stück weit auf den umgeworfenen Baum. Dann gab sie ein letztes lautes Knirschen von sich und verstummte.
Auf der Piazza brach Jubel aus. Menschen fielen sich um den Hals, selbst solche, die sich sonst nicht sonderlich mochten. Freu-dentränen flossen. Mit der allgemeinen Angst verflüchtigte sich rasch auch die lähmende Starre. Inzwischen waren von dem Spektakel wohl an die hundert Männer, Frauen und Kinder angezogen worden, die nun scheinbar in geschlossener Formation auf das Mädchen und ihren Retter zustürmten. Nicos Beschützerinstinkt schlug erneut Alarm. Er drückte die kleine Marianna noch fester an sich und kämpfte sich mit ihr auf die Beine. Dabei streifte sein Blick die zerklüftete Nordfront des
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