Der Herr der Unruhe
»Stadtvater«
gebeten hatte. Freundlich lächelnd ließ man den deutschen Gast abblitzen. Für Normalsterbliche galt es als aussichtsreicher, eine Audienz beim Papst zu bekommen als einen Termin beim Podestà des Zehntausend-Einwohner-Städtchens.
An jenem kühlen Dezembermorgen, als Nico auf der Piazza
Umberto I. eine Tüte Äpfel kaufte und noch nicht ahnte, dass sein Leben in wenigen Minuten einen Stoß in eine neue Richtung bekommen würde, hatte er das Kommen und Gehen des Vorstehers schon fast zwei Wochen lang studiert. Oft war er stundenlang die Via Durand de la Penne auf und ab gewandert, weil das Zielobjekt seiner Observation sich an keinen erkennbaren Zeitplan hielt. Die Arbeit in der Stadtverwaltung schien für Manzini nur eine Liebha-berei zu sein, der er offenbar nur dann frönte, wenn seine übrigen, vermutlich lukrativeren Geschäfte ihm dies erlaubten. Im Laufe der Beobachtungen hatte Nico auch mehrmals Laura Manzini zu Gesicht bekommen, was es ihm nicht unbedingt leichter machte, den Rat seines besten Freundes zu befolgen. Wie sollte er sich dieses Mädchen aus dem Kopf schlagen, wenn es in ebendiesen immer wieder Einzug hielt? Nachts pflegte sie in den Kammern seines Geistes sogar regelmäßig ausgedehnte Spaziergänge zu unternehmen. Sie war so himmlisch schön, so anmutig, so grazil, so geschmackvoll gekleidet, so klug, mit einem so wunderbaren Lächeln gesegnet, so …!
»… Wechselgeld, Signor Michel.«
Nico riss sich vom Geschehen vor dem verschachtelten Man-
zini-Anwesen los. Sein Blick zog sich zurück über den Neptun-Brunnen, wo Kinder in Pfützen spielten, streifte eine Straßenwalze, die gerade ein ausgebessertes Stück Pflaster planierte, und kam schließlich auf dem Mondgesicht von Signora Pallotta zum Stehen. »Wie bitte?«
Die Verkäuferin verdrehte theatralisch die Augen. Sie war eine kleine, rundum gut gepolsterte Frau in den Sechzigern mit rot geäderten Wangen und einer durchdringenden Stimme. » Mamma mia , wo haben die jungen Leute heutzutage nur ihren Kopf! Ihr 75
restliches Geld. Oder soll ich es behalten, Signor Michel?« Wenn sie seinen Namen aussprach, hörte es sich immer wie Mikele an.
»Wohl besser nicht, Signora Pallotta. Im Moment muss ich
jede Lira zweimal umdrehen.«
»Haben Sie immer noch keine Arbeit gefunden?«
»Leider nicht. Vielleicht sollte ich mich mal beim Stadtvorsteher bewerben …«
»Aber Sie sind doch Ausländer, Signor Michel. Don Massimiliano würde Sie niemals einstellen. Erstens verbieten es die Vorschriften, und zweitens hat er keine Zeit, sich um die Sorgen eines jungen Burschen wie Sie zu kümmern.«
»Ja, ja, das Wohl der Stadt scheint ihn arg zu beanspruchen.«
»Ha! Wenn Sie sich da nur nicht irren, caro mio. Don Massimiliano sorgt sich wohl eher um sein Vermögen und vielleicht noch um seine Dynastie, die ihm nicht so recht gelingen will.«
»Wie meinen Sie das?«
»Nach der Totgeburt seines erhofften Erben konnte Donna
Genovefa – das ist seine zweite Frau –, na, jedenfalls ist sie nicht mehr schwanger geworden.« Signora Pallotta senkte die Stimme.
»Man sagt, es laste ein Fluch auf ihm.«
»Ach! Und wer behauptet so was?«
Die Verkäuferin straffte den Rücken. »Dieser und jener.
Man hört so einiges, wenn man tagaus, tagein mit den Leuten spricht.«
»Das glaube ich. Sagt man nicht auch, dass Don Massimiliano ein sehr abergläubischer Mann sein soll?«
Signora Pallotta warf die Hände hoch und ließ sie sogleich wieder fallen. »Abergläubisch ist gar kein Ausdruck! Würd mich nicht wundern, wenn er sich in seinem verwinkelten Haus einen eignen Astrologen hält, nur damit der ihm das tägliche Horoskop stellt und ihm sagt, ob eine Katze schwarz genug ist, um ihr aus dem Weg zu gehen, oder bei wie vielen verschütteten Salzkörn-chen er sich ernstlich Sorgen machen muss oder …«
»Die Sache mit dem Fluch, die Sie erwähnten – war das nur so dahingesagt?«
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Die mollige Signora gab sich erstaunt. »Nun behaupten Sie bloß nicht, Sie hätten noch nie von seiner Manie mit der Lebensuhr gehört?«
Nicos Puls beschleunigte sich. Äußerlich blieb er völlig ruhig.
»Was, bitte schön, ist eine Lebensuhr ?«
»Dann kennen Sie die Geschichte also tatsächlich nicht.« Die Gemüseverkäuferin schüttelte mit Nachdruck den Kopf. »Das müssen Sie unbedingt hören, Signor Michel. Vor nun bald sieben Jahren hatte Don Massimiliano von Meister Emanuele dei Rossi eine Uhr gekauft. Es soll ein Stück von
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