Der Herr der Unruhe
Stimme klang weder vorwurfsvoll noch zornig. Sie war so tonlos wie die Komplet, das Nachtgebet der Mönche, die Nico seinerzeit bei sich aufgenommen hatten.
Der Junge verspürte das unbändige Verlangen zu fliehen. Als könne sein Blick den Vater an Ort und Stelle bannen, starrte er diesen an und schob sich zugleich aus dem Bett. Dann begann er zu laufen, immer weiter, immer schneller. Die Wände seines Zimmers hatten sich aufgelöst, und er rannte durch einen Nebel, der ihm jede Orientierung raubte. Als er sich umdrehte, war der Mann mit dem Stilett in der Brust immer noch da. Langsam schritt er hinter dem Fliehenden her und kam doch immer näher.
Nico beschleunigte noch einmal das Tempo, obwohl er längst wusste, wie aussichtslos sein Entkommen war. Mit einem Mal spürte er eine Hand auf der Schulter und blieb wie festgefroren stehen. Einen Wimpernschlag später sah er sich seinem Vater gegenüber, der ihn aus leeren Augenhöhlen ansah.
Die Hand des Uhrmachermeisters lastete immer noch wie ein schwerer Eisblock auf der Schulter seines Sohnes. Nico versuchte sie fortzustoßen, aber auch das gelang ihm nicht. Eine klare Kristallwand trennte den Toten vom Lebenden. Nur die Hand des Ermordeten hatte aus unerklärlichem Grund die Barriere durch-stoßen können. Wollte sie den Verräter an der Flucht hindern?
Und dann schlug Emanuele dei Rossi seinen Kopf gegen die
glasklare Wand. Nico sah, wie die Haut an der Stirn seines Vaters aufplatzte, und schrie. Immer wieder und von Mal zu Mal heftiger hämmerte der Uhrmacher seinen Schädel gegen den Kristall. Nico 163
kreischte vor Entsetzen, aber das grauenhafte Hammerwerk kam nicht zur Ruhe. Die durchscheinende Trennwand verwandelte sich in einen blutroten Vorhang. Bis die Hand auf Nicos Schulter ihn nach vorne zog …
»Junge, wach auf!«
Der Gerufene öffnete die Augen und blickte in Meister Johans Gesicht. Neben dem Uhrmacher stand seine Frau.
»Du hast wieder geträumt«, sagte Lea sanft.
Nico war in Schweiß gebadet. Ach ja, der Albtraum! Wie ein Schatten hatte er ihn von Nettuno nach Rom, anschließend durch ganz Italien und zuletzt bis nach Wien begleitet. »Entschuldigt, dass ich euch geweckt habe.«
Lea setzte sich zu ihm auf die Bettkante und drückte ihn an ihre Brust. »Wenn ich dir nur irgendwie helfen könnte!«
»Ich habe am Montag schon mit ihm darüber gesprochen, aber es hat wohl nichts genützt«, maulte ihr Mann.
»Nebbich, Johan! Als wenn damit seine Seele geheilt wäre. Der Junge braucht Zeit.«
»Aber genau das habe ich ihm gesagt.«
»Und Liebe.«
»Willst du damit behaupten, ich …«
»Du bist eben manchmal ein Klotz, Johan.«
»Es geht schon wieder, Tante Lea«, wehrte sich Nico gegen ihre Umklammerung.
Sie gab ihn wieder frei. »Besser?«
Er nickte. »Ich muss mal ins Bad.«
»Geh nur, Junge. Du bist ganz nass geschwitzt. Und versuch, noch ein bisserl zu schlafen. Es ist nicht mal vier.«
Johan und Lea Mezei verfügten über den Luxus eines eigenen Badezimmers. Dorthin floh Nico vor den beiden. Ihm war es unangenehm, dass er die herzensguten Menschen immer wieder mit seinem Geschrei aus der Nachtruhe riss. Nachdem er etwas Wasser getrunken und sich erfrischt hatte, waren sie längst wieder im Bett. Nico beschloss, in die Werkstatt hinunterzugehen. Schlafen konnte er sowieso nicht mehr.
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Johan Mezeis Uhrenladen befand sich im selben Haus wie ihre Wohnung. Den Eingang erreichte man jedoch nur über die Straße, weil die angrenzende Wohnung anderweitig vermietet war. Ein großes Schaufenster in der Porzellangasse lockte potenzielle Kunden an. Die eigentliche Werkstatt lag im einzigen Hinterzimmer des Geschäfts. Nachdem der Junge sich angezogen hatte, schlich er in den Hausflur hinaus.
Bereitwillig sprang das Licht an. Der Generalstreik war Schnee von gestern. Die ihn begleitenden Kämpfe hatten sich innerhalb von Stunden zu einem landesweiten Bürgerkrieg ausgeweitet.
Damit gaben die Schutzbündler der Staatsgewalt eine Handhabe zur rigorosen Räumung der besetzten Arbeiterheime und Ge-meindebauten. Aus dem Recht der Stände wurde über Nacht das Standrecht. Man sprach von Hunderten von Toten.
Nicos Abscheu gegen den Machtapparat wucherte wie Unkraut, das ihm zunehmend die Luft zum Atmen nahm. Noch keine vierundzwanzig Stunden waren vergangen, als die Regierung unter Einsatz schwerer Waffen den Bürgerkrieg beendet hatte. Doch auch an diesem 16. Februar 1934 konnten Rebellen, ob echte oder nur vermeintliche,
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