Der Herr der Unruhe
gehörten sie der oppositionellen Bewegung Giustizia e Libertà an. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte sich Bruno rechtzeitig in den Untergrund geflüchtet, um dem Schicksal seiner Genossen zu entgehen.
Nicos Augen wanderten über die schwungvollen Buchstaben.
In der schönen, fast wie Kalligrafie anmutenden Handschrift offenbarte sich Brunos ästhetische Seite, die er so mühevoll hinter der Fassade des ungestümen Kämpfers für »Gerechtigkeit und Freiheit« zu verbergen suchte. Die Mitteilung war kurz.
Nico!
Triff mich morgen um sechs Uhr früh am Torre Astura.
Der Späher vom Forte Sangallo
In glücklicheren Tagen hatte Nico mit dem »Späher vom Forte Sangallo« das Tyrrhenische Meer nach dem mythischen Neptunia abgesucht. Die Identität des anonymen Schreibers stand darum für ihn außer Frage.
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So verschwendete er auch keinen Gedanken an eine mögliche Gefahr, als er am Sonntagmorgen im Sattel seines treuen Albino nach Süden ritt. Noch vor Sonnenaufgang hatte er sich auf den Weg gemacht. Die Strecke betrug ungefähr zwölf Kilometer. Ob Bruno in Schwierigkeiten steckte?
Torre Astura war eine kleine mittelalterliche Festung, die ihren Namen einem trutzigen Turm verdankte, der aus ihren achteckigen Mauern aufragte. Bereits in der Antike hatte an gleicher Stelle ein Gebäude gestanden. Vermutlich konnte der Fremdenführer Bruno Sacchi einen langen Vortrag darüber halten, aber Nico wusste nur, dass hier einst Konradin von Hohenstaufen festgenommen worden war, um wenig später in Neapel enthauptet zu werden.
Im Licht der aufgehenden Sonne bot das Kap einen unwirklichen Anblick. Es erhob sich aus der flachen Landschaft Latiums wie eine Vision, die jeden Moment in der leicht bewegten See zu entschwinden drohte. Die unverputzten Steine von Turm und Mauern schienen zu brennen. Ein gemauerter Steg führte vom Ufer zur Insel hinüber. Der Torre gehört der Apostolischen Kammer und war der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Warum hatte Bruno sich ausgerechnet diesen Treffpunkt ausgesucht?
Nico versteckte sein Motorrad in einem Waldstück etwas
oberhalb des Torre und kehrte dann zu dem Feldweg zurück, in den er von der Straße aus eingebogen war. Irgendein Bauer hatte hier Weizen angepflanzt. Seine Fingerkuppen strichen im Vorü-
bergehen über einen beschädigten Traktorenanhänger hinweg, der einmal zum Pflügen bestimmt gewesen war. Nun rostete das alte Arbeitstier vor sich hin, ein stählernes Skelett, dem Zeit und Frondienst das Rückgrat gebrochen hatten.
Nachdem er eine weitere Baumgruppe durchquert hatte, er-
reichte er endlich den Strand. Einige hundert Meter weit folgte er dem Küstenstrich bis zur Annunziate, einem uralten Kirchlein, das mit einer Hand voll weiterer Hüten auf der Halbinsel vor der eigentlichen Festung stand. Früher hatte es an dieser Stelle einen künstlichen Hafen gegeben, von dem zwei Becken noch sichtbar waren. Abgesehen von diesen stummen Zeitzeugen ließ sich je-171
doch niemand blicken. Hoffentlich war Bruno nichts zugestoßen.
Nico wanderte ein Stück in nördlicher Richtung und suchte die Gegend nach seinem Freund ab. Nichts.
Als sein Blick wieder zur Festung zurückkehrte, bemerkte er dicht über dem Wasserspiegel eine Öffnung, die wie das obere Ende eines Torbogens aussah. Bei Flut wäre sie vermutlich vom Wasser bedeckt und somit unsichtbar gewesen. Plötzlich erschien in dem Durchlass ein Ruderboot. Sein Rumpf war hellblau, nur einen schmalen Streifen unterhalb des Dollbords hatte sein Besitzer weiß gestrichen. Schnell glitt es aufs offene Meer hinaus. An den Riemen saß Bruno. Er arbeitete sich mit kraftvollen Schlägen durch die Dünung, bis er schließlich im Schatten des Steges das Ufer erreichte.
»Ich wusste, auf dich ist Verlass«, begrüßte er seinen Freund.
Sie umarmten sich.
»An deiner Stelle wäre ich mir da nicht so sicher gewesen.
Sonntags um sechs liege ich gewöhnlich noch in den Federn.«
»Was? Du musst nicht pünktlich um acht bei deinem Podestà die Uhr aufziehen?«
»Spotte nur! Heute erwartet er mich erst um neun. Wo bist du die letzte Woche gewesen, Bruno?«
»Bei Freunden.«
»Du meinst denen von der Giustizia e Libertà? Es tut mir Leid, was mit deinen Kameraden passiert ist.«
Bruno warf die Hände in die Luft, stapfte drei oder vier Schritte den Strand hinab, um aber sogleich wieder umzukehren. »Es tut ihm Leid! Er sagt, es tut ihm Leid. Du hast ja keine Ahnung, was die OVRA mit ihren Geiseln
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