Der Herr der Unruhe
standrechtlich hingerichtet werden.
Nico widmete sich einer kleinen goldenen Taschenuhr, die der Frau eines christlich-sozialen Abgeordneten gehörte. Der Lehrling wunderte sich schon längst nicht mehr über die seltsame Zwiespältigkeit seines Meisters. Im Herzen war Johan Mezei ein glühender Sozialdemokrat, aber hinter dem Ladentisch ein wohl kalkulierender Geschäftsmann.
Etwa eine halbe Stunde verging, während der Nachwuchs-
Uhrmacher das kleine Kaliber in seine Einzelteile zerlegte. Plötzlich hörte er von der Porzellangasse her ein angestrengtes Motorengeräusch. Kurz darauf kamen vor dem Haus schlitternd Reifen zum Stehen. Nico schaltete die Arbeitslampe aus. Stiefel knallten auf dem Straßenpilaster. Man konnte hören, wie es in einer der Wohnungen nebenan klingelte.
Der Junge schlich sich in den Laden und spähte durch das
Schaufenster, gerade noch rechtzeitig, um mehrere bewaffnete 165
Soldaten des Bundesheeres ins Haus stürmen zu sehen. Davor wartete ein Armeelastwagen. Wen suchten sie? Doch nicht
etwa …? Meister Johan hatte sich an den Unruhen nicht beteiligt.
Die wenigsten im Haus wussten überhaupt, welche politische Gesinnung er hatte. Nein, diese Razzia musste einem anderen gelten. Nico zog sich wieder in die Werkstatt zurück. Besser, er mischte sich in die Sache nicht ein. Zu den Nachbarn unterhielt er sowieso keine engeren Beziehungen. Wenn sich im Haus irgendein Aufständler verkrochen hatte, dann war das nicht seine Angelegenheit.
Bald drangen aufgeregte Stimmen dumpf aus dem Hausflur
herüber. Eine Frau begann zu schreien. Nico rann es eiskalt den Rücken hinunter. Die Haustür quietschte. Sie kamen wieder heraus. Er huschte abermals zum Schaufenster und sah die Soldaten wie ein Rudel grauer Wölfe, das sich um seine Beute scharte.
Plötzlich erhaschte er einen Blick auf den Rücken eines kleinen Mannes. Dessen Haarfarbe ließ sich im schwachen Licht zwar nicht ausmachen, aber sein dichter Schopf besaß die Beschaf-fenheit von Stahlwolle. Nicos Herz verkrampfte sich. »Meister Johan!« Seine Stimme war nur ein Hauch.
Es ging alles ganz schnell. Johan Mezei wurde auf die Ladeflä-
che des Lastwagens gestoßen, einige Männer stiegen auf, andere rannten die Porzellangasse hinab. Der Transporter fuhr los.
Nach einer langen Schrecksekunde stürzte Nico aus dem
Laden und spähte dem Fahrzeug hinterher. Nur noch die Rück-lichter waren zu sehen. Mit einem Ruck fuhr er herum und rannte ins Haus. Schon nach wenigen Stufen, im Hochparterre, verlang-samten sich noch einmal seine Schritte, weil er dort eine sich leise schließende Tür bemerkte hatte. Es war die Wohnung »des Auges«, einer mürrischen Witwe namens Martha Hrdlicka, die sich zur Wächterin der Hausordnung berufen fühlte. Der Junge ließ ihren Ausguck links liegen und setzte rasch seinen Aufstieg in den dritten Stock fort.
Atemlos erreichte er sein Ziel. Ein leises Wimmern kam aus der Wohnung des Uhrmachers. Die Tür war nur angelehnt. Vor-166
sichtig drückte Nico sie auf. Auf dem Boden vor ihm kauerte Lea, die Beine unter ihrem zusammengesunkenen Leib merkwürdig
verdreht, als hätte das Entsetzen sie ihr weggeschlagen. Ihre Schultern bebten, und sie weinte haltlos.
Nico kniete sich zu ihr und nahm sie in den Arm, um ihr den Trost zu vergelten, den sie ihm vor weniger als eine Stunde geschenkt hatte. Er wiegte sie an seiner Brust und merkte zum ersten Mal, wie klein und zerbrechlich diese Frau war, die ihm so oft mit ihrer Stärke über trübe Stimmungen hinweggeholfen hatte.
Beruhigend sprach er auf sie ein. »Wir bringen die Sache wieder in Ordnung, Tante Lea. Das kann nur ein Missverständnis sein. Johan hat niemandem etwas getan.«
Sie hob den Kopf und sah ihn aus tränenverhangenen Augen
an. »Missverständnis? Das war kein Missverständnis, Junge. Jemand hat meinen Johan angeschwärzt. Weil er Sozialdemokrat ist.
Und weil wir Juden sind.«
»Glaubst du etwa, sie hat …?«
»Natürlich war’s das Auge. Die Hrdlicka geifert doch ständig gegen uns.«
»Aber das wissen wir nicht«, widersprach er schwach. »Be-
stimmt liegt da ein Irrtum vor. Du wirst sehen, zum Frühstück ist Meiser Johan wieder zurück.«
Ein Zittern ging durch Leas Körper. »Ich habe solche Angst, Nico!«
»Ich auch. Aber …«
»Aber es herrscht immer noch das Standrecht. Wenn sie ihn nun abgeholt haben, um ihn zu erschießen …« Sie schüttelte schluchzend den Kopf. »Dann will ich auch nicht mehr
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