Der Herr der Unruhe
»Dein Jiddisch klingt zwar noch etwas holperig, aber das wird schon.«
Plötzlich erlosch das Licht der elektrischen Lampe auf dem Arbeitstisch.
Die Miene des Meisters verdüsterte sich. »Verflucht und zugenäht! Die Birne kann doch nicht schon wieder durchgebrannt sein. Ich habe erst gestern eine neue eingeschraubt.«
Nico hielt seine Hand dicht über dem heißen Lampenschirm.
»Ihr fehlt nichts. Entweder ist die Sicherung durchgeschmolzen, oder wir haben einen Stromausfall.«
Johan klappte seine Taschenuhr auf, ein untrügliches Zeichen seiner Verwirrtheit. »Was für einen Tag haben wir heute?«
»Montag, der 12. Februar.«
»Und es ist elf Uhr sechsundvierzig. Der Generalstreik! Ich war so im Gespräch vertieft …«
»Ein Streik?«
»Ja, hast du heute noch kein Radio gehört? Die Exekutive hat das Linzer Arbeiterheim nach Waffen durchsucht. Darauf entschloss sich der Schutzbund zum gewaltsamen Widerstand. Die Kämpfe sollen bereits auf andere Landesteile übergegriffen haben.
Jetzt wird der geplante Generalstreik zu einem Fanal.«
»Hoffentlich stecken sie dabei nicht ganz Österreich in Brand«, brummte Nico voll dunkler Ahnungen. Inzwischen erinnerte er sich, dass Meister Johan von der Arbeitsniederlegung gesprochen hatte. In den eigenen vier Wänden redete der überzeugte Sozialdemokrat unablässig von irgendwelchen politischen Aktionen und Entwicklungen, aber sein Lehrling konnte sich dafür wenig begeistern. Sicher, als die Nationalsozialisten im Dezember ’32
Stinkbomben im Kaufhaus Gerngroß in der Mariahilferstraße geworfen hatten, fand er das noch ganz lustig. Aber dann hörte er, dass auch Tränengas im Spiel war und die Panik zahlreiche Verletzte gefordert hatte. Jede Nachricht vom Leiden anderer beschwor in Nico sofort die Erinnerungen an den schrecklichen Todeskampf seines Vaters herauf.
In den folgenden Monaten hatten sich die Nachrichten über 161
weitere Rücksichtslosigkeiten gehäuft. Am 1. Mai 1933 ließ Bundeskanzler Dollfuß die Wiener Innenstadt durch Militär abriegeln, damit Johan Mezei und sein Cousin Moritz – ein sozialdemokratischer Schriftsteller – nicht zum traditionellen Tag der Arbeit aufmarschieren konnten. Mit Bangen hatten Lea und Nico auf die Rückkehr der beiden gewartet und waren erst wieder froh gewesen, als sie abends unversehrt nach Hause kamen.
In den Wochen darauf folgten die Verbote der Kommunisti-
schen Partei, der NSDAP und des steirischen Heimatschutzbundes.
Im November kam es zur Wiedereinführung der Todesstrafe vor den Standgerichten. Und vor gerade drei Wochen, am 21. Januar 1934, hatte Dollfuß dem Uhrmachermeister Mezei auch noch die Morgenlektüre verboten, indem er die Arbeiter-Zeitung aus dem Verkehr zog. Damit verfügte ein zorniger Johan Mezei täglich über achtzehn Groschen mehr in der Börse – sonntags waren es sogar vierundzwanzig –, die er ohne Zögern dem Widerstand gegen das ihm verhasste Dollfuß-Regime spendete.
In Nicos Augen wurde Politik immer mehr zu etwas Schmutzigem, mit dem man Menschen ihrer Freiheit beraubte und sie un-glücklich machte. Mit seinen knapp fünfzehn Jahren wälzte er die Entscheidungen der Mächtigen und ihrer Opponenten nicht wie einen Hering lange in der Panade hin und her, sondern beurteilte das Geschehen in Stadt und Land mehr aus dem Bauch heraus.
Und für das, was ihm Österreichs Bundeskanzler, Herr Doktor Engelbert Dollfuß, schon kurz nach Ausbruch des Generalstreiks antun würde, hatte der Uhrmacherlehrling Niklas Michel überhaupt kein Verständnis.
Er warf sich von einer Seite auf die andere. Das Laken war verwühlt. Die Bettdecke lag irgendwo am Boden. Nico wusste nichts davon. Er spürte lediglich, wie sich in seinem Körper eine eisige, ihm nur allzu vertraute Kälte ausbreitete. Unvermittelt hörte er ein leises Knarren. Sämtliche Härchen an seinem Körper richteten sich auf. Sofort saß er kerzengerade im Bett.
Bis auf den schwachen Schimmer der Straßenbeleuchtung, der 162
sich am Vorhang vorbei ins Zimmer schummelte, war es völlig dunkel. Von der Porzellangasse drang das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos herauf. Nicos Augen suchten den Raum ab. Und dann sah er ihn: seinen Vater.
Der Schemen stand unbeweglich in der Nähe des Fensters,
sodass genügend Licht auf ihn fiel, um den Dolch in seiner Brust erkennbar zu machen. Sein weißes Hemd war vom herabrinnen-den Blut schwarz gefärbt.
»Warum hast du mir nicht geholfen?«, fragte Emanuele dei
Rossi. Seine
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