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Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet

Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet

Titel: Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Hitchens
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Anhängern des Averroes vorgebrachte Konzept der »Doppelten Wahrheit« wurde jedoch von der Kirche aus offensichtlichen Gründen strikt abgelehnt. In der Regierungszeit Königin Elizabeths schrieb Francis Bacon – vielleicht in Anlehnung an Tertullian, der sagte, je lächerlicher etwas sei, desto intensiver werde daran geglaubt –, der Glaube sei am größten, wenn die Lehren am wenigsten der Vernunft zugänglich seien. Pierre Bayle machte sich wenige Jahrzehnte nach ihm einen Spaß daraus, zunächst alle vernünftigen Argumente gegen einen bestimmten Glaubenssatz anzuführen, und fügte hinzu, dass der Triumph des Glaubens dadurch nur umso größer werde. Wir können ziemlich sicher sein, dass er damit nicht nur eine Bestrafung vermeiden wollte. Die Zeit, da die Ironie das Fanatische und Prosaische ins Bockshorn jagen würde, war nicht mehr fern.
    Doch ohne Racheaktionen und Rückzugsgefechte von Seiten der Fanatiker ging es nicht ab. Im 17. Jahrhundert bot das streitbare kleine Holland eine kurze, aber großartige Zeit lang als toleranter Gastgeber zahlreichen Freidenkern wie Bayle und Descartes Zuflucht. Ebenfalls in Holland kam ein Jahr vor der Anklageerhebung gegen Galilei durch die Inquisition der große Baruch Spinoza zur Welt, Sohn spanischer und portugiesischer Juden, die sich ihrerseits in Holland vor Verfolgung in Sicherheit gebracht hatten. Am 27. Juli 1656 sprachen die Vorsteher der Amsterdamer Synagoge folgenden Cherem oder Bannspruch gegen Spinoza und sein Werk aus:
    Nach dem Urteil der Engel und der Aussage der Heiligen verbannen, verfluchen, verwünschen und verdammen wir Baruch d’Espinosa... Er sei verflucht bei Tag und verflucht bei Nacht, verflucht sein Hinlegen und verflucht sein Aufstehen, verflucht sein Gehen und verflucht sein Kommen... Hütet euch: dass niemand mündlich noch schriftlich mit ihm verkehre, niemand ihm die geringste Gunst erweise, niemand unter einem Dach mit ihm wohnt, niemand sich ihm auf vier Ellen nähere, niemand eine von ihm gemachte oder geschriebene Schrift lese. [FUSSNOTE69]

    An die mehrmaligen Verfluchungen schließt sich die Aufforderung an alle Juden an, jeglichen Kontakt mit Spinoza sowie die Lektüre seiner Schriften zu meiden. Erwähnt wird in diesem Kontext übrigens auch der Fluch des Elisa: In dieser überaus erhebenden biblischen Geschichte verflucht Elisa, von Kindern wegen seines Kahlkopfes gehänselt, diese im Namen des Herrn, worauf zwei Bären aus dem Wald kommen und die Kinder in Stücke reißen. Thomas Paine hatte schon seine Gründe, als er sagte, er könne an keine Religion glauben, die Kinderseelen erschüttere.
    Der Vatikan und die calvinistischen Kirchenführer Hollands begrüßten Spinozas hysterische Verurteilung durch die Juden und eilten ihnen bei der europaweiten Unterdrückung aller seiner Werke zu Hilfe. Hatte der Mann nicht die Unsterblichkeit der Seele infrage gestellt und die Trennung von Kirche und Staat gefordert? Hinweg mit ihm! Heute genießen der damals verfemte Ketzer und das eigenständigste philosophische Werk, das je zur Unterscheidung zwischen Geist und Körper verfasst wurde, höchste Anerkennung. Seine Gedanken zur Conditio humana haben nachdenklichen Menschen mehr Trost gespendet als jede Religion. Bis heute ist ungeklärt, ob Spinoza Atheist war, doch der Streit darum, ob es sich beim Pantheismus nun um Atheismus handelt oder nicht, mutet heutzutage schon seltsam an. Spinoza argumentiert durchaus im Rahmen eines Theismus, doch indem er Gott als etwas beschreibt, das sich in der gesamten natürlichen Welt manifestiert, ist er drauf und dran, einen religiösen Gott wegzudefinieren. Und wenn es eine alles durchdringende, präexistente kosmische Gottheit gibt, die ein Teil dessen ist, was sie erschafft, so bleibt kein Raum für einen Gott, der in das Leben der Menschen eingreift, geschweige denn für einen, der in brutalen Kleinkriegen zwischen jüdischen und arabischen Sippen Partei ergreift. So ein Gott kann keinen Text verfasst oder inspiriert haben, und er kann auch nicht Exklusiveigentum einer einzelnen Sekte oder Sippe sein. Erinnern wir uns an die Frage, die Chinesen den ersten christlichen Missionaren in China stellten. Wenn Gott sich offenbart hat, wie kommt es dann, dass er so viele Jahrhunderte wartete, bis er es die Chinesen wissen ließ? Schon der Prophet Mohammed riet einem Hadith zufolge: »Strebe nach Wissen, selbst wenn es in China ist!« Ohne es zu wissen, verwies er damit darauf, dass die größte

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