Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet
was aber nicht weiter von Bedeutung ist. Entscheidend an der genialen Vorstellung des »Atomismus« ist es, dass er die Frage nach einer ersten Ursache oder einem Ursprung als im Wesentlichen irrelevant betrachtet. Weiter konnte man sich damals gar nicht aus dem Fenster lehnen.
Die Problematik der Götter blieb damit ungelöst. Epikur, der die Atomtheorie des Demokrit aufgriff, negierte die Existenz der Götter nicht völlig, konnte aber auch nicht glauben, dass sie für das Leben der Menschen eine Rolle spielten. Warum sollten sie sich für die öde menschliche Existenz interessieren, geschweige denn für eine öde menschliche Regierung? Die Götter, so Epikur, mieden unnötigen Schmerz, und die Menschen seien weise, es ihnen nachzutun. Vor dem Tod müsse man sich daher nicht fürchten, und bis dahin seien alle Versuche, die Absichten der Götter etwa aus Tiereingeweiden zu lesen, absurde Zeitverschwendung.
Von allen Begründern der Antireligion ist der römische Dichter Lukrez in mancherlei Hinsicht der interessanteste und faszinierendste. Er lebte im ersten vorchristlichen Jahrhundert und bewunderte das Werk des Epikur über alle Maßen. In Reaktion auf eine Wiederbelebung des alten Glaubens durch Kaiser Augustus verfasste er ein geistreiches und kunstvolles Gedicht mit dem Titel De rerum natura (Über die Natur der Dinge). Dieses Werk wurde im Mittelalter von christlichen Fanatikern beinahe zerstört, und nur ein Manuskript hat die Zeit überdauert. Wir können von Glück sagen, dass es zur Zeit des Julius Cäsar und des Cicero, der das Lehrgedicht zuerst veröffentlichte, überhaupt noch einen Dichter gab, der sich weiter für den Atomismus stark machte. Mit seiner Aussage, die Aussicht auf eine künftige Annihilation sei nicht schlimmer als das Nachdenken über das Nichts, aus dem wir gekommen seien, nahm Lukrez David Hume voraus. Sigmund Freud klingt bereits an, wenn sich Lukrez über die Begräbnisriten und Gedenkzeremonien lustig macht, aus denen der fruchtlose und unsinnige Wunsch spreche, der eigenen Bestattung beizuwohnen. Aristophanes folgend, meinte er, das Wetter erkläre sich selbst, und das Werk, das törichte und egozentrische Menschen als göttlich inspiriert betrachteten oder auf ihr schwaches Ego bezogen, verrichte, völlig frei von Göttern, die Natur:
Wer kann kräftig die Zügel der unermesslichen Tiefe
Halten in leitender Hand, wer alle die Himmel im Gleichmaß
Drehn und fruchtbar die Erde mit Flammen des Äthers erwärmen,
Gegenwärtig zu jeglicher Zeit und an jeglichem Orte,
Um bald Dunkel durch Wolken zu schaffen und Donner erregend
Heiteren Himmel zu trüben, bald Blitze zu senden und häufig
Selbst die eigenen Tempel zu schädigen oder im Wüten
Selbst auf Wüsten Geschosse zu richten, die harmlose Leute
Und unschuldige töten, dagegen die Schuldigen meiden? [FUSSNOTE68]
Der Atomismus wurde im gesamten christlichen Europa viele Jahrhunderte lang aus dem durchaus vernünftigen Grund erbittert verfolgt, dass er die natürliche Welt sehr viel besser erklärte, als die Kirche das konnte. Doch wie ein gedanklicher Faden überlebte das Werk des Lukrez im Geiste einiger weniger Gelehrter. Sir Isaac Newton mag gläubig gewesen sein – er glaubte nicht nur an Jesus Christus, sondern auch an alle möglichen Pseudowissenschaften –, doch in den ersten Entwürfen seiner Philosophiae naturalis principia mathematica (Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie) zitiert er neunzig Zeilen aus De rerum natura. Galilei erwähnt Epikur in seinem 1623 entstandenen Werk Saggiatore zwar nicht direkt, stützt sich aber so stark auf dessen Atomtheorie, dass Freunde wie Kritiker es als epikureisch bezeichneten.
Wenn man bedenkt, dass die Kirche in den frühen christlichen Jahrhunderten Wissenschaft und Forschung grausam verfolgte (Augustinus zufolge gab es die heidnischen Götter, allerdings in Form von Teufeln, und die Erde war angeblich weniger als sechstausend Jahre alt) und dass es die meisten intelligenten Menschen für ratsam hielten, sich nach außen konform zu geben, ist es kaum verwunderlich, dass die Wiederbelebung der Philosophie häufig in fromme Worte gekleidet wurde. Die Anhänger der in seiner kurzen Blütezeit in Andalusien zugelassenen Philosophieschulen – eine Synthese aus aristotelischer Philosophie, Judaismus, Christentum und Islam – durften über die Dualität in der Wahrheit und ein mögliches Gleichgewicht zwischen Vernunft und Offenbarung spekulieren. Dieses von
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