Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet
Guten zu viel zu beweisen. Heute heißt es durchaus zutreffend, unter dem Gewissen sei das zu verstehen, was uns zu gutem Benehmen veranlasst, wenn niemand hinsieht. Sokrates jedenfalls weigerte sich strikt, etwas zu sagen, dessen er sich moralisch nicht sicher war. Manchmal brach er, wenn er sich selbst der Spiegelfechterei oder der Schaumschlägerei verdächtigte, mitten in der Rede ab. Seinen Richtern erklärte er, sein »Orakel« habe ihn in seiner Verteidigungsrede an keiner Stelle unterbrochen. Wer das Gewissen als Nachweis für Gottes ordnende Hand anführt, bringt ein Argument vor, das sich weder beweisen noch widerlegen lässt. Der Fall Sokrates jedoch zeigt auf, dass Männer und Frauen, die über ein wahrhaftiges Gewissen verfügen, es häufig gegen den Glauben behaupten müssen.
Sokrates drohte der Tod, doch er hatte die Möglichkeit, bei einer Verurteilung auf Strafminderung zu plädieren. Stattdessen bot er in beinahe beleidigendem Ton die Zahlung einer lächerlichen Geldstrafe an. Nachdem er seinen verärgerten Richtern keine andere Möglichkeit als die Höchststrafe gelassen hatte, erklärte er, warum seine Ermordung durch sie für ihn ohne Bedeutung sei. Der Tod habe keinen Schrecken: Entweder sei er ein ewiger Schlaf oder die Chance auf Unsterblichkeit – ja, auf eine Zwiesprache mit großen Griechen wie Orpheus und Homer, die vor ihm gestorben seien. In diesem glücklichen Falle, so merkte er trocken an, möchte man ja sogar immer wieder sterben. Für uns spielt es überhaupt keine Rolle, dass das Orakel von Delphi der Vergangenheit angehört und dass Orpheus und Homer mythische Gestalten sind. Entscheidend ist für uns, dass Sokrates seine Ankläger mit ihren eigenen Waffen schlug, indem er ihnen sagte: Ich weiß nicht genau, was es mit dem Tod und den Göttern auf sich hat, aber ich weiß mit Sicherheit, dass ihr es auch nicht wisst.
Die antireligiöse Wirkung des Sokrates und seiner sanften, aber unnachgiebigen Fragen geht auch aus einem Theaterstück hervor, das noch zu seinen Zeiten verfasst und aufgeführt wurde. In Die Wolken des Aristophanes unterhält ein Philosoph namens Sokrates eine Skeptikerschule. Ein Bauer aus der Umgebung stellt die üblichen begriffsstutzigen Fragen, die Gläubige eben so stellen: Wenn es Zeus nicht gibt, wer sorgt dann für den Regen, der das Getreide bewässert? Sokrates fordert den Mann auf, einmal seinen Kopf zu benutzen: Der Regen würde doch, wenn Zeus ihn machen könnte, auch aus einem wolkenlosen Himmel fallen. Da das nicht geschieht, wäre es da nicht klüger anzunehmen, dass die Wolken die Ursache für den Regen sind? Na gut, sagt der Bauer, wer bewegt aber dann die Wolken? Doch sicher Zeus? Nein, sagt Sokrates und erklärt ihm die Wirkungsweise des Windes und der Wärme. Aha, erwidert der alte Landmann, aber wo kommt der Blitz her, der Lügner und andere Missetäter straft? Der Blitz, lautet die sanfte Antwort, macht keinen Unterschied zwischen dem guten und dem schlechten Menschen. Ja, häufig schlägt er in die Tempel des olympischen Zeus höchstpersönlich ein. Damit hat er den Bauern auf seiner Seite, der allerdings später seine Gottlosigkeit widerruft und die Schule samt Sokrates darin niederbrennt. Manch ein Freidenker hat seither das gleiche Schicksal erlitten oder ist ihm nur knapp entgangen. Alle größeren Gefechte um das Recht auf Gedankenfreiheit, Redefreiheit und freie Forschung sind so abgelaufen, dass die Religion sich mit ihrem prosaischen und engstirnigen Denken gegen den ironischen und nachforschenden Geist durchzusetzen versucht hat.
Im Grunde beginnt die Auseinandersetzung mit dem Glauben bei Sokrates und endet auch dort, und man kann die Ansicht vertreten, dass die städtischen Ankläger recht taten, als sie die Athener Jugend vor Sokrates’ lästigen Spekulationen beschützten. Allerdings führte Sokrates auch nicht gerade viel Wissenschaftliches gegen den Aberglauben ins Feld. Einer seiner Ankläger behauptete, er habe die Sonne als einen Steinbrocken und den Mond als einen Erdbrocken bezeichnet, wobei Letzteres zutreffend gewesen wäre, doch Sokrates wischte den Vorwurf mit dem Hinweis beiseite, das sei ein Problem für Anaxagoras. Der ionische Philosoph war wegen ebendieser Behauptung bereits zuvor unter Anklage gestellt worden, wobei er nicht so weit ging wie Leukipp und Demokrit, denen zufolge alles aus Atomen besteht, die ständig in Bewegung seien. Nebenbei bemerkt ist es durchaus möglich, dass Leukipp nie existierte,
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