Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet
»Beschützer« trieb. [FUSSNOTE5]
Und ungeachtet der hehren Appelle des schiitischen Großayatollah Sistani erwies es sich als recht einfach, eine solche Reaktion zu provozieren. Bald töteten und folterten schiitische Todesschwadronen, oft in Polizeiuniform, aufs Geratewohl Menschen sunnitischen Glaubens. Der heimliche Einfluss der benachbarten »islamischen Republik« in Teheran war unübersehbar, und in manchen schiitischen Gegenden wurde es auch für unverschleierte Frauen und säkular orientierte Menschen gefährlich. Die Iraker blicken auf eine lange Tradition interkonfessioneller Ehen und Zusammenarbeit zurück. Doch wenige Jahre dieser bösartigen Dialektik haben eine Atmosphäre des Elends, des Misstrauens, der Feindseligkeit und der sektiererischen Politik geschaffen. Wieder einmal hatte die Religion alles vergiftet .
In allen erwähnten Fällen gab es auch Menschen, die im Namen der Religion Einspruch erhoben und versuchten, sich der anschwellenden Flut des Fanatismus und des Todeskultes entgegenzustellen. Mir fallen spontan Priester, Bischöfe, Rabbiner und Imame ein, die der Menschlichkeit Vorrang vor ihrer eigenen Religionsgemeinschaft oder ihrem eigenen Glauben einräumten. Die Geschichte hält viele solcher Beispiele bereit, auf die ich später noch eingehen will. Doch das ist ein Kompliment an den Humanismus, nicht an die Religion. Entsprechend haben andere Atheisten und ich uns in Krisensituationen veranlasst gesehen, unsere Stimme für Katholiken zu erheben, die in Nordirland diskriminiert wurden, für bosnische Muslime, die im christlichen Balkan von der Vernichtung bedroht waren, für schiitische Afghanen und Iraker, die durch die Schwerter sunnitischer Dschihadisten zu Tode kamen und umgekehrt. Hier klar Stellung zu beziehen ist die erste Pflicht eines jeden Menschen mit Selbstachtung. Umso widerwärtiger ist es, wie zurückhaltend geistliche Autoritäten mit einer unmissverständlichen Verurteilung sind, handle es sich nun um den Vatikan im Falle Kroatiens oder die Verantwortlichen in Saudi-Arabien und im Iran bei ihren jeweiligen Glaubensbrüdern. Nicht weniger abstoßend ist die Bereitschaft der jeweiligen »Schäfchen«, bei der geringsten Provokation in atavistische Verhaltensmuster zu verfallen.
Nein, Mr. Prager, meiner Erfahrung nach bringt man sich besser in Sicherheit, wenn die Gebetsversammlungen zu Ende sind. Und das war, wie erwähnt, nur der Buchstabe B. Wer sich um die Sicherheit und Würde der Menschen sorgt, müsste in jedem dieser Fälle mit ganzem Herzen auf den Durchbruch des demokratischen und republikanischen Säkularismus hoffen.
Um die Wirkung des Giftes zu beobachten, musste ich die erwähnten exotischen Städte gar nicht erst bereisen. Schon lange vor dem entscheidenden 11. September 2001 spürte ich, dass die Religion die bürgerliche Gesellschaft erneut herausforderte. Wenn ich nicht gerade als Amateur-Auslandskorrespondent durch die Welt reise, führe ich ein recht beschauliches und geordnetes Leben: Ich schreibe Bücher und Aufsätze, bringe meinen Studenten die Liebe zur englischen Literatur nahe, nehme an erfreulichen Literaturkongressen teil und beteilige mich in den Medien und im universitären Bereich an aktuellen Debatten. Doch auch diese behütete Existenz war schon Ziel ungeheurer Eingriffe, Beleidigungen und Übergriffe. Am 14. Februar 1989 wurde mein Freund Salman Rushdie zum Tode verurteilt, lebenslänglich. Sein Vergehen: Er hatte einen Roman geschrieben. Der Führer eines Gottesstaates – der Ayatollah Khomeini im Iran – hatte sich angemaßt, öffentlich Geld auf den Kopf eines Romanautors auszusetzen, der nicht Bürger seines Landes war. Für Rushdies Ermordung und die aller an der Veröffentlichung der Satanischen Verse beteiligten Personen setzte er nicht nur bares Geld aus, sondern versprach auch eine Freikarte fürs Paradies. Ein größerer Angriff auf das Recht auf freie Meinungsäußerung ist nicht vorstellbar. Der Ayatollah hatte den Roman nicht gelesen, konnte es wohl auch nicht, und untersagte nun allen anderen Menschen die Lektüre. Trotzdem gelang es ihm, abstoßende Demonstrationen in Großbritannien und in anderen Teilen der Welt zu entfachen, auf denen Muslime das Buch verbrannten und schrien, man möge den Autor am besten auch gleich den Flammen übergeben.
Diese gleichermaßen grausigen wie grotesken Ereignisse hatten ihren Ursprung natürlich nicht in der fiktionalen, sondern in der realen Welt. Der Ayatollah hatte das Leben
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