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Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet

Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet

Titel: Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Hitchens
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Segmentierung, seine Muskeln und das flexible Rückgrat weisen es als einen Urahn aus, der indes keinerlei Anbetung einforderte. Millionen anderer Lebensformen starben aus, noch ehe das Kambrium vorüber war, doch dieser kleine Prototyp überlebte. Gould schrieb dazu:
    Spulen wir das Band des Lebens bis zur Burgess-Zeit zurück, und lassen wir es noch einmal ablaufen. Wenn Pikaia im zweiten Durchlauf nicht überlebt, sind wir aus der künftigen Geschichte getilgt, und zwar wir alle, vom Hai über das Rotkehlchen bis zum Orang-Utan. Und ich glaube nicht, dass ein Kampfrichter angesichts des heute bekannten Burgess-Materials dem Überleben von Pikaia große Chancen eingeräumt hätte.
    Wenn Sie also die ewige Frage stellen möchten, warum der Mensch existiert, dann muss die Antwort, zumindest hinsichtlich jener Aspekte, die überhaupt von der Wissenschaft behandelt werden können, so lauten: weil Pikaia die Burgess-Dezimierung überlebte. Darin wird nicht ein einziges Naturgesetz bemüht, keine Aussage über vorhersehbare Wege der Evolution gemacht, keine Berechnung von Wahrscheinlichkeiten anhand allgemeiner Regeln der Anatomie oder der Ökologie angestellt. Das Überleben von Pikaia eine Kontingenz »bloßer Geschichte«. Eine »höhere« Antwort kann, denke ich, nicht gegeben werden, und ich kann mir auch keine Lösung vorstellen, die faszinierender wäre. Wir sind das Ergebnis von Geschichte, und wir müssen selbst unsere Wege festlegen in diesem vielfältigsten und interessantesten aller denkbaren Universen, einem Universum, das gleichgültig ist gegen unser Leiden und uns daher die größte Freiheit gewährt, zu gedeihen oder zu scheitern auf die Weise, die wir gewählt haben. [FUSSNOTE22]

    »Frei« gewählt haben, so muss man hinzufügen, innerhalb sehr streng definierter Grenzen. Hier spricht ein nüchterner, authentischer Mensch, Wissenschaftler und Humanist mit Leib und Seele. Vage haben wir das alles schon geahnt. Die Chaostheorie hat uns mit der Vorstellung vertraut gemacht, dass der zufällige Flügelschlag eines Schmetterlings einen leichten Zephir in einen wüsten Taifun verwandeln kann. Saul Bellows Augie March stellt scharfsinnig fest: »...unterdrückst du auch nur ein Teil, werden alle anderen Teile des Ganzen davon in Mitleidenschaft gezogen.« [FUSSNOTE23]

    Goulds verblüffendes und erhellendes Buch über die Burgess Shale trägt im Original den doppeldeutigen Titel Wonderful Life , der einen der beliebtesten romantischen Filme Amerikas assoziiert ( Ist das Leben nicht schön? ). Auf dem Höhepunkt dieses ebenso bezaubernden wie unergründlichen Films wünscht sich James Stewart, nie geboren worden zu sein. Doch dann zeigt ihm ein Engel, wie die Welt aussähe, wenn ihm sein Wunsch erfüllt würde. Damit vermittelt der Film dem Durchschnittsamerikaner eine Vorstellung von der heisenbergschen Unschärferelation: Bei jedem Versuch, etwas zu messen, wird das zu Messende minimal verändert. Erst in jüngster Zeit wurde erkannt, dass die Kuh enger mit dem Wal verwandt ist als mit dem Pferd. Sicher erwarten uns noch mehr Überraschungen. Wenn unser Dasein in seiner gegenwärtigen Form tatsächlich zufällig und kontingent ist, so können wir uns zumindest auf die weitere Evolution unseres schwachen Hirns freuen und auf enorme Fortschritte in der Medizin, auch der lebensverlängernden, die sich aus der Stammzellenforschung und der Nutzung des Nabelschnurblutes ergeben.
    Peter und Rosemary Grant von der Princeton University wandeln auf den Galapagosinseln seit dreißig Jahren auf Darwins Spuren. Sie haben unter schwierigsten Bedingungen auf der winzigen Insel Daphne Major gelebt und beobachtet, wie sich die Finken entwickeln und an Veränderungen ihres Lebensraums anpassen. Sie haben aufzeigen können, dass sich die Finkenschnäbel in Größe und Form an Dürre und Nahrungsknappheit anpassten, indem sie sich auf Größe und Beschaffenheit anderer Samen und Käfer einrichteten. Die Vogelschar, die seit drei Millionen Jahren dort heimisch ist, konnte sich aber nicht nur in eine Richtung entwickeln. Der Schnabel veränderte sich in eine andere Richtung, wenn die Verfügbarkeit der Käfer und Samen es erforderlich machte. Die Grants haben das sehr genau beobachtet und ihre Erkenntnisse und Belege veröffentlicht. Wir stehen tief in ihrer Schuld. Sie führten ein hartes Leben, doch wer wollte sich wünschen, sie hätten sich stattdessen in einer heiligen Höhle oder auf einer geweihten Säule sitzend selbst

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