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Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet

Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet

Titel: Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Hitchens
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ihren Fähigkeiten zu lernen, und wir nutzen Raketen und Satelliten, um uns besser unterhalten zu können. Doch das Bewusstsein, dass unserem Tod der Tod unserer Art folgt und der Hitzetod des Universums, ist nur ein schwacher Trost. Immerhin geht es uns nicht wie denen, die starben, bevor sie ihre Geschichte erzählen konnten, oder die jetzt, in diesem Moment, nach einer wenige Minuten währenden, schmerz- und angsterfüllten Existenz den Tod finden.
    Im Jahre 1909 wurde in den kanadischen Rocky Mountains an der Ostgrenze der Provinz British Columbia eine immens wichtige Entdeckung gemacht. Die Gegend wird als Burgess Shale (Burgess-Schiefer) bezeichnet, und obwohl es sich um eine natürliche Formation frei von Zauberei handelt, wirkt sie fast wie eine Zeitmaschine, ein Schlüssel zur Vergangenheit – und zwar zur fernen Vergangenheit: Die Kalksteinformation entstand vor rund fünfhundertsiebzig Millionen Jahren in der »Kambrischen Explosion«, wie die Paläontologen dieses Phänomen bezeichnen. Im Verlauf der Evolution starben phasenweise zahlreiche Arten aus, während sich in anderen Phasen die Vielfalt des Lebens sprunghaft entwickelte. (Ein intelligenter »Gestalter« wäre wohl ohne diese chaotischen Hochs und Tiefs ausgekommen.)
    Die meisten Tiere unserer Zeit haben ihre Wurzeln in dieser kambrischen Blütezeit, doch erst 1909 wurde es möglich, sich ein Bild von ihrem ursprünglichen Lebensraum zu machen. Bis dahin musste man sich mit Knochen und Schalen begnügen, wohingegen man in der Burgess Shale auch fossilierte Weichteile fand, unter anderem den Inhalt tierischer Verdauungstrakte. Für die Entschlüsselung vieler Lebensformen ist die Fundstätte eine Art paläontologischer Stein von Rosette.
    In unserer Ichbezogenheit stellen wir die Evolution gern als eine Art Leiter dar, auf deren unterster Stufe ein nach Luft schnappender Fisch an Land robbt. Auf den nächsten Stufen folgen bucklige Kreaturen mit riesigen Zähnen und dann, Schritt für Schritt, der Mensch, bis auf der höchsten Stufe ein aufrecht stehender Mann im Anzug mit dem Regenschirm winkend »Taxi!« ruft. Auch Wissenschaftler, die den »Zickzack« mit dem Auftauchen neuer Arten und ihrem Aussterben, ihrem erneuten Auftauchen und neuerlichen Aussterben kennen und die zudem wissen, wann das Ende des Universums zu erwarten ist, haben sich darauf verständigt, dass es eine hartnäckige Tendenz zur Progression gibt. Das ist nicht weiter verwunderlich: Weniger erfolgreiche Lebewesen sterben aus oder werden von erfolgreicheren zerstört. Doch der Fortschritt schließt die Vorstellung der Arbitrarität nicht aus. Als der große Paläontologe Stephen Jay Gould die Burgess Shale untersuchte, gelangte er zu einer höchst beunruhigenden Erkenntnis. Bei der Untersuchung der Fossilien und ihrer Entwicklung wurde ihm klar: Wenn man diesen Baum noch einmal pflanzte oder diese Suppe noch einmal aufkochte, so würde wahrscheinlich nicht genau das dabei herauskommen, was wir heute kennen.
    Dieser Schluss kam Gould übrigens durchaus nicht gelegener als dem Leser oder mir. In seiner Jugend hatte er sich mit dem Marxismus befasst und konnte den Begriff »Fortschritt« sehr wohl mit Inhalt füllen. Doch als Forscher war er zu gewissenhaft, als dass er das Beweismaterial hätte ignorieren können, das so offen vor ihm lag. Gould distanzierte sich von Evolutionsbiologen, denen zufolge der Fortschritt erbarmungslos und in Millimeterschritten unserer Art intelligenten Lebens zustrebte. Wenn man die vielen evolutionären Entwicklungen aus dem Kambrium aufnehmen, die Aufnahme »zurückspulen« und dann noch einmal abspielen könnte, so Gould, gebe es keine Gewissheit, dass sie noch einmal genau so verlaufen würden. Mehrere Äste des Baumes – eine bessere Analogie wären die Zweige eines sehr dichten Busches –, die verdorrten, würden bei einem »Neustart« womöglich austreiben, wohingegen andere, die blühten und sich verzweigten, dieses Mal vertrocknen und absterben könnten. Wir wissen, dass unsere Natur und unser Dasein darauf beruht, dass wir Wirbeltiere sind. Das erste bekannte Wirbeltier wurde in der Burgess Shale gefunden und ist ein fünf Zentimeter langes, recht elegantes Tierchen, das in Anlehnung an den nahe gelegenen Berg und seine geschmeidige Schönheit den Namen Pikaia gracilens erhielt. Zunächst wurde das Tier fälschlicherweise als Wurm klassifiziert – wir dürfen nicht vergessen, wie neu viele unserer Erkenntnisse sind – doch seine

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