Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet
wissen, konnten die Religionsgründer nicht einmal ahnen, und gewiss hätte ihnen dieses Wissen die hochmütige Sprache verschlagen. Doch wieder gilt: Wenn wir uns erst der überflüssigen Annahmen entledigt haben, wird auch die Spekulation darüber, wer uns so gestaltete, dass wir zu Gestaltern wurden, so nutzlos und irrelevant wie die Frage, wer eigentlich den Gestalter gestaltet hat. Aristoteles, dessen Gedanken über den unbewegten Beweger und die erste Ursache am Beginn dieser Problematik steht, kam zu dem Schluss, dass es logischerweise siebenundvierzig bis fünfundfünfzig Götter geben müsse. Sogar ein Monotheist würde an dieser Stelle bereitwillig zu Ockhams Rasiermesser greifen. Die Monotheisten haben die Vielzahl erster Beweger auf einen einzigen heruntergehandelt. Damit sind sie der runden, zutreffenden Ziffer schon ziemlich nah.
Wir müssen uns auch der Tatsache stellen, dass die Evolution nicht nur schlauer ist als wir, sondern auch unendlich gefühllos, grausam und unberechenbar. Fossilienfunde und Erkenntnisse aus der Molekularbiologie belegen, dass nahezu achtundneunzig Prozent aller Arten, die je auf der Erde gelebt haben, ausgestorben sind. Es gab Phasen, in denen sich das Leben geradezu explosionsartig diversifizierte, gefolgt von solchen, in denen besonders viele Arten ausstarben. Damit sich Leben auf dem langsam abkühlenden Planeten überhaupt halten konnte, musste es auf einem unglaublichen Überfluss gründen. Wir können das im Kleinen in unserem menschlichen Leben beobachten: Der Mann produziert viel mehr Samenflüssigkeit, als für den Aufbau einer Familie nötig wäre, und wird von dem durchaus nicht nur unangenehmen Bedürfnis getrieben, sie überall an die Frau zu bringen oder anderweitig loszuwerden – ein Ungemach, das die Religionen überflüssigerweise verschärft haben, indem sie unkomplizierte Methoden zum Ablass dieses Drucks, angeblich Teil des »Designs«, verboten haben. Die schiere wimmelnde Masse, sei es bei den Insekten, Sperlingen, Lachsen oder Dorschen, ist eine gigantische Verschwendung, die in einigen, wenngleich nicht in allen Fällen sicherstellt, dass genügend Tiere überleben.
Die höheren Tiere sind davon nicht ausgenommen. Die Religionen, die wir kennen, sind aus nahe liegenden Gründen in Völkern entstanden, die wir ebenfalls kennen. In Asien, im Mittelmeerraum und im Nahen Osten sind Spuren des Menschen durchgängig bis in eine eindrucksvoll weit zurückliegende Vergangenheit belegt. Doch sogar in den religiösen Mythen sind Zeiten der Dunkelheit, der Seuchen und der Katastrophen erwähnt, in denen sich die Natur gegen die menschliche Existenz zu wenden schien. Mündlichen Überlieferungen zufolge, die mittlerweile von den Archäologen bestätigt werden, ging die Entstehung des Schwarzen Meeres mit einer gewaltigen Flut einher. Dieses überwältigende Ereignis beeindruckte die mesopotamischen Geschichtenerzähler nachhaltig. Noch heute reisen Jahr für Jahr christliche Fundamentalisten zum Berg Ararat im heutigen Armenien, um eines Tages das Wrack der Arche Noah zu finden – vergebliche Liebesmüh, denn selbst wenn die Suche von Erfolg gekrönt wäre, würde das nichts beweisen. Könnten sie aber einen Bericht darüber lesen, was wirklich geschah, so wäre dieser um einiges eindrücklicher als die banale Geschichte von Noahs Flut – eine dunkle Wasserwand, die tosend über eine dicht besiedelte Ebene hereinbricht. So etwas musste sich in das vorgeschichtliche kollektive Gedächtnis einbrennen, ja es beschäftigt uns bis heute.
Zum Schicksal der meisten unserer Mitmenschen in Nord- und Südamerika gibt es dagegen nicht einmal eine verschüttete oder schlecht dokumentierte Erinnerung. Als die katholischen Konquistadoren Ende des 15. Jahrhunderts n. Chr. in der westlichen Hemisphäre eintrafen, überzogen sie das Land dermaßen willkürlich mit Gewalt und Zerstörung, dass der Spanier Bartolomeo de las Casas anregte, die Eroberer mögen formell ihren Verzicht erklären, sich offiziell entschuldigen und die ganze Unternehmung als Fehler abschreiben. Dieser Vorschlag war zwar gut gemeint, doch de las Casas schlechtes Gewissen rührte von der Vorstellung her, dass die »Indianer« in einem unberührten Garten Eden gelebt hatten. Spanien und Portugal hätten sich somit um die Chance gebracht, die Unschuld, die vor dem Fall Adams und Evas geherrscht hatte, wieder zu entdecken. Dieser Unsinn zeugte von Wunschdenken und großer Überheblichkeit: Die Olmeken und
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