Der Herr vom Rabengipfel
gelangweilt über die Reihen der Männer und blieb an einem etwa zwölfjährigen Knaben haften. Ein spindeldürres, in Lumpen gehülltes Bürschchen, mit Handgelenken so dünn wie Hühnerknöchel und spitz hervorstechenden Ellbogen. Aus den zerschlissenen Kleiderfetzen ragten die Beine wie Stecken, sie waren schmutzverkrustet und mit Narben übersät. Der Bursche war in einem bejammernswerten Zustand und würde sterben, wenn er nicht bald einen Herrn fand, der ihn aufpäppelte. Zweifellos hatte man ihn häufig gefoltert und mißhandelt.
Nicht daß Merrik Mitleid empfand. Er war ein Sklave und würde einen Käufer finden, entweder einen grausamen oder einen guten Herrn, der ihm möglicherweise irgendwann die Freiheit schenken würde. Vielleicht hatte der Junge Glück. Merrik zwang sich, den Blick zu wenden. Sein Plan war, noch an diesem Vormittag Kiew zu verlassen, und es gab noch viel zu erledigen. Er wandte sich zum Gehen, als der Junge plötzlich den Kopf hob und ihre Blicke einander trafen. Die Augen des Sklaven waren graublau, was nichts Ungewöhnliches war. Und doch: in seinem Blick lag etwas Besonderes. Das Grau erinnerte ihn an die Zinnschale, die seine Mutter zur Hochzeit geschenkt bekommen hatte, und das Blau war dunkler als die See im Winter. Sein verfilztes Haar war zu schmutzig, um seine Farbe bestimmen zu können. Merrik hätte dem Jungen keine weitere Beachtung geschenkt, wären da nicht diese Augen gewesen . . . Augen als Spiegel der Seele. Doch diese Augen waren leer, dumpf, schicksalsergeben. Auch das war nichts Ungewöhnliches, hätte die Dumpfheit sich nicht unvermutet in Trotz und Auflehnung verwandelt. Wenn das Kerlchen nicht bald lernte, diese Auflehnung zu verbergen, würde er nicht mehr lange leben. Im nächsten Moment verwandelte sich die Auflehnung in Zorn, und zwar in einen so gewaltigen Zorn, daß Merriks Nackenhaare sich sträubten. Und ebenso unvermittelt wurde der Blick wieder ausdruckslos, Zorn und Leidenschaft wurden überdeckt von Hoffnungslosigkeit. Merrik sah förmlich, wie der Bursche sich in sein Inneres verkroch.
Er war ein Sklave, ob aus einer Hütte in einem Dorf oder aus einem stattlichen Gehöft verschleppt. Merrik würde ihn nie wieder sehen und ihn wenig später vergessen haben. Er wandte sich Oleg zu, der ihn am Ärmel zupfte, um ihm eine Sklavin zu zeigen.
Auf ein wildes Geschrei hin drehte Merrik erneut den Kopf. Der fette Schwede, dessen Anblick Merrik am Abend zuvor so angewidert hatte, hielt den abgezehrten Burschen am Arm gepackt und zerrte ihn aus der Reihe der Männer. Schnaubend zeterte er, er habe einen viel zu hohen Preis für die dreckige Filzlaus bezahlt, und wenn er nicht gleich aufhöre zu schreien, würde er ihm das Maul stopfen. Noch durchdringender schrie ein kleines Kind, das sich an der anderen Hand des Burschen festklammerte. Vermutlich sein kleiner Bruder, dachte Merrik, den der fette Schwede verschmäht hatte. Der Kleine schrie weiterhin gellend. In Merrik krampfte sich etwas zusammen. Der Kaufmann schlug auf den Burschen ein, der versuchte, seinen kleinen Bruder auf den Arm zu nehmen. Nun versetzte der Schwede dem Kind einen brutalen Tritt, das daraufhin mit dem Gesicht zur Erde fiel und liegen blieb. Der ältere Junge bearbeitete den Bauch des Fettsacks mit Fäusten, der drohend die Hand hob, sie dann aber wieder sinken ließ. Fluchend warf er sich das Bürschchen über die Schulter und stapfte weiter.
Der Kleine rappelte sich mühsam hoch. Er hatte aufgehört zu schreien und starrte seinem Bruder fassungslos nach. Merrik konnte es nicht länger ertragen. »Warte«, rief er Oleg zu und lief zu dem Kind.
Vor dem mißhandelten Jungen ging er in die Knie und hob ihm sanft das Kinn hoch. Tränen liefen über das schmutzige, kleine Gesicht und hinterließen helle Spuren. »Wie heißt du?« fragte Merrik.
Es schluchzte laut und blickte Merrik verängstigt an. »Ich tue dir nichts. Wie heißt du?« fragte Merrik erneut.
Das Kind antwortete mit leichtem Akzent: »Ich heiße Taby. Der dicke Mann hat . . .«
Die Stimme versagte ihm. Der Tränenfluß verstärkte sich, und der kleine Körper wurde von einem quälenden Schluckauf geschüttelt. Mit leiser, beschwichtigender Stimme fragte Merrik: »Und wie heißt dein Bruder?«
Der Bub senkte den Kopf und schwieg.
»Er ist doch dein Bruder?«
Ein stummes Nicken war die Antwort.
Merrik hob den Kopf. Der Kaufmann war verschwunden. Das Kind war allein. Seine mageren Schultern wurden von seinem
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